Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
Vom Netzwerk:
von oben herab. Dann ein Hopser, und Karla  – die von allen nur Karli genannt wurde  – stand vor dem Doppelstockbett. Ihr geblümtes Nachthemd reichte bis an die Kniekehlen. »Komm, Mia. Ich weiß, du bist noch müde. Aber das nützt nichts. Wir müssen in den Waschraum.« Karla wartete geduldig.
    Mia  – die eigentlich Maria hieß, aber so nannte sie niemand, weil Maria ein in der DDR verpönter Vorname war  – rieb sich die geschlossenen Augen. Sie wollte in ihrem warmen Bett bleiben, die Lider fest geschlossen, wollte zurück ins Traumland, in dem sie mit Mama im Garten gespielt hatte  – zu Hause  –, nur sie und ihre Mutter. »Mama!«
    »Deine Mama ist nicht hier. Komm jetzt, sonst kriegen wir Ärger!« Karli zog an Mias Decke. Wenn sie sich morgens nicht beeilten, gab es Ärger. Großen Ärger. Und auch wenn Karli sich bemühte, der kleinen Mia zu helfen, Scherereien mit den Erziehern konnte sie nicht gebrauchen.
    Mia öffnete die Augen. Draußen war es noch finster. Vorsichtig streckte sie ein Bein nach draußen. Dann das andere. Im Schlafsaal war es bitterkalt. Ihre nackten Fußsohlen berührten den Boden und zuckten sofort wieder nach oben. Das Linoleum war eisig. Neben ihr huschte ein größeres Mädchen vorbei.
    Karli war zu den mannshohen Schränken gegangen und hatte die Waschtaschen geholt. Jetzt wartete sie an der Tür darauf, dass Mia ihre Pantoffeln fand. Sie waren die beiden letzten. Schnell hasteten die Mädchen hinaus. Die Korksohlen verursachten schmatzende Geräusche auf dem Fußboden.
     
    Mias Augen tränten, während sie sich bemühte, die korrekte Zahnputztechnik anzuwenden, die Angela ihr gezeigt hatte. Angela war eine von den Großen. Sie hatte die Aufgabe, die Neuankömmlinge in hygienische Grundregeln einzuweisen und deren
Einhaltung zu kontrollieren. Man wusste schließlich nie, welche Bedingungen in den Elternhäusern geherrscht hatten, aus denen die Kinder kamen. Manche von den Kleinen waren sich anfangs nicht einmal im Klaren darüber, dass man sich täglich waschen musste.
    Auf die Hygiene legte man im Kinderheim größten Wert. Alles musste sauber und ordentlich sein. Jeden Morgen ging es zuerst in den Waschraum, dann wurden die Betten gemacht, und anschließend traf man sich frisch gekämmt und angekleidet im Frühstücksraum. Nicht, um zu frühstücken, nein, zuerst gab es eine zehnminütige Morgenbesprechung für alle, in der das Weltgeschehen kurz erörtert wurde. Das Ganze diente der »politischen Meinungsbildung« im Kollektiv. Erst danach durften die Kinder frühstücken.
    Mia beobachtete, wie Angela ihren Waschlappen auswrang und das Handtuch an die Hakenleiste hängte. Neben ihr gurgelte Karli und spuckte Wasser ins Waschbecken.
    »Los, Mia. Mach ein bisschen hin. Es wird knapp. Wir müssen noch die Betten machen. Ich möchte keinen Ärger mit Miss Piggy.« Mia dachte kurz an die kleine Erzieherin mit der Schweinchennase, blinzelte schnell die Tränen weg und beeilte sich, ihren Mund ebenfalls auszuspülen.
    Hastig tappten die beiden Mädchen zurück, vorbei am Schlafraum der Jungs.
    »Dein Nachthemd ist hinten nass.« Karli fasste im Gehen nach Mias Schulter. Mia dachte an die Bescherung in ihrem Bett, schwieg und schluckte mehrmals. Im Schlafraum herrschte mittlerweile geschäftiges Treiben. Die Mädchen kleideten sich an und richteten ihre Betten her, zogen die Laken glatt, falteten die Ränder der Decken exakt auf Kante.
    »Zieh dich schnell an, dann helfe ich dir bei deinem Bett.« Karli wartete nicht auf Mias Antwort, sondern ging zu ihrem Schrank. Der Ablauf war jeden Morgen der gleiche, und Mia
war nun auch schon mehrere Wochen hier und sollte allmählich selbst wissen, wo es langging.
    »Was ist denn hier passiert?« Karli betrachtete den nassen Fleck auf Mias Matratze. Diese holte tief Luft und versuchte, die hervorquellenden Tränen hinunterzuschlucken. »Hast du wieder ins Bett gemacht?« Die Kleine nickte und begann zu zittern.
    »Verflucht! Das kann ich nicht vertuschen. Wir brauchen neue Wäsche für dich.« Ehe Mia es sich versah, hatte Karla schon begonnen, das Laken abzuziehen. »Der Fleck auf deinem Nachthemd ist auch davon?« Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern murmelte weiter. »Du weißt, was das bedeutet. Ich kann dir da nicht helfen.«
    »Mia hat ins Bett gemacht! Mia hat ins Bett gemacht!« Die kleine Susi, ein stämmiges Mädchen von zehn Jahren, hopste wie ein Springball auf und ab und grinste dabei übers ganze

Weitere Kostenlose Bücher