Sensenmann
eher, damit ich Ihre Daten aufnehmen kann. Wenn etwas dazwischenkommt, verständigen Sie uns bitte vorher.«
»Geht in Ordnung.« Der Wespenschwarm brummte jähzornig.
»Sie wissen, wo unsere Praxis ist?« Die Sprechstundenhilfe begann zu erklären. Mia hörte nicht zu. Das Navigationssystem ihres Autos würde sie schon hinführen. Sie fixierte ihren aufgeschlagenen
Terminplaner. Ohne es zu merken, hatte sie bereits für morgen »16:00 Uhr, Dr. Grünthal« notiert. Die Schwester verabschiedete sich und legte auf. Mia hielt den Hörer noch ein paar Sekunden lang ans Ohr gepresst, ehe sie ihn zurück in die Ladeschale steckte. In ihrem Schädel surrte es unentwegt. Eigentlich hätte sie erleichtert sein müssen, stattdessen fühlte sie sich zerschlagen. Das konnte jedoch auch eine Nachwirkung der letzten Nacht sein. Nach ihrem schlafwandlerischen Ausflug hatte sie nicht wieder einschlafen können und war kurz nach sechs wie gerädert aus dem Bett gekrochen. Wenn das die nächsten Tage so weiterging, würde sie spätestens am Wochenende einen Kreislaufkollaps erleiden. Es war höchste Zeit, etwas gegen die Kapriolen ihrer Psyche zu unternehmen.
Das wird doch sowieso nichts! Wer weiß, ob du morgen überhaupt dahin fährst. »Das werden wir ja sehen!« Mia biss die Zähne aufeinander, dass es knirschte. Sie traf hier die Entscheidungen, nicht die Stimme in ihrem Kopf, und sie hatte beschlossen, dass sie Hilfe brauchte.
In ihrem Magen ätzte der Frühstückskaffee. Die Armbanduhr mahnte: dreiviertel acht. Mia kämpfte mit der Übelkeit. Es ging ihr entschieden nicht gut. Sie musste sich endlich mal ausruhen und Kraft schöpfen.
23
»Hallo miteinander!« Lara blickte in die Runde. An allen Tischen wurde geschäftig gearbeitet. Nur Toms Platz war leer. Seit der gestrigen Redaktionsbesprechung hatte sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie nahm sich vor, in der Abwesenheitsliste nachzuschauen, wo er heute war, und hatte es eine Minute später schon wieder vergessen.
»Hi, Lara.« Isabell stakste herbei. Die Absätze ihrer Schuhe waren mindestens zehn Zentimeter hoch. Lara fragte sich, wie die Praktikantin damit den ganzen Tag herumlaufen konnte, ohne Höllenqualen zu leiden. Aber vielleicht hatte sie auch Schmerzen und zeigte es nur nicht, nach dem altbewährten Prinzip: Wer schön sein will, muss leiden.
»Ich habe dich gestern gar nicht gesehen.« Isabell blieb vor Laras Tisch stehen, die Giraffenbeine in der Standbein-Spielbein-Stellung über Kreuz.
»Ich war im Gericht. Bin erst kurz vor Schluss noch einmal hier gewesen.« Lara begann, ihre Handtasche auszuräumen.
»Ach ja! Dieser Arzt, der die Kinder begrabscht hat. Steht ja heute drin!«
Isi klang aufgeregt. Lara überlegte kurz, sich zur Ausdrucksweise der Praktikantin zu äußern, ließ es dann aber. Es hatte in der Vergangenheit nichts gebracht, und außerdem lief Isabells Zeit in der Redaktion ab. Sinnlos, sie missionieren zu wollen. »Genau.«
»Und was machst du heute so?«
Jetzt sah Lara doch hoch. Die junge Frau stand neben ihrem Schreibtisch und wartete auf eine Antwort. Die Arme hatte sie dekorativ in die Seiten gestemmt, wo ein überbreiter Gürtel die schmale Taille betonte. Der Rock reichte gerade bis zur Mitte der Oberschenkel. Ihre Augen waren dunkel geschminkt. »Smoky eyes«, wie nett. Sollte wohl verrucht aussehen.
»Dies und das.« Was sollte das hier werden? Ein netter kleiner Büroplausch? Die Praktikantin war doch sonst nicht so neugierig. Womöglich vermisste sie auch nur ihren eigentlichen Gesprächspartner. Jetzt fiel es Lara wieder ein. »Wo ist eigentlich Tom?«
»Keine Ahnung.« Isabell schürzte die Lippen. »Steht nur ›außer Haus‹ in der Liste.« Sie schien enttäuscht.
»Ach so.« Lara starrte auf ihren Bildschirm. Sie hatte sich vorgenommen,
heute an der begonnenen Hintergrund-Rubrik zu »Gewalt gegenüber Wehrlosen – Verbrechen an Kindern« weiterzuarbeiten. Wenn sie das Thema nicht ab und zu hervorholte, geriet es zu sehr ins Hintertreffen und war dann irgendwann gestorben. Das wäre schade um die bereits investierte Zeit. Und zudem war das Thema zu bedeutsam, um es einfach fallenzulassen.
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Nein danke.«
»Ein Wasser?«
Erneut blickte Lara auf. Wollte die Praktikantin jetzt ersatzweise sie bemuttern? »Ich möchte gar nichts, Isi. Ich habe zu tun.« Im Abwenden sah Lara den enttäuschten Gesichtsausdruck. Schon tat es ihr wieder leid, dass sie so schroff gewesen war,
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