Sensenmann
Karli sich neben ihr entspannte. Das schien gerade noch einmal gut gegangen zu sein. Die Gurich drehte indessen den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, so als habe sie noch nicht genug. Geh doch endlich, flehte etwas in Mias Kopf.
»Was ist bitte das?« Der linke Arm löste sich von der fleischigen Hüfte und wies in Richtung Tisch. Vorsichtig folgten die Blicke der Mädchen. Neben dem rechten Tischbein lag ein zerknülltes Stofftaschentuch. Es musste einer von ihnen aus der Tasche gefallen sein. Lange konnte es sich noch nicht dort befinden, denn sie waren gerade erst aus der Schule gekommen und hatten das Zimmer morgens blitzsauber verlassen.
»Wer von euch Schlampen schmeißt seine benutzten Taschentücher einfach so auf den Boden?« Die Gurich schaute von einem zum anderen. Die Mädchen erwiderten ihren Blick nicht, sondern sahen zu Boden. Mia biss die Zähne aufeinander, damit sie nicht klapperten. Die Muskeln an ihren Schläfen begannen zu schmerzen.
»Ihr wollt nicht antworten? Nun, dann schaue ich selbst nach.« Langsam watschelte die Erzieherin ins Zimmer hinein. Jetzt hingen ihre Mundwinkel nicht mehr herab, sondern wellten sich selbstgefällig nach oben. Ihr Tag war gerettet. Wäre ihr nicht dieses Taschentuch aufgefallen, hätte sie einen anderen Grund gefunden, eines der Mädchen zu bestrafen. Irgendetwas fand sich immer, sosehr sie auch achtgaben. Die Gurich würde gleich wissen, wem dieses Stück Stoff unter dem Tisch gehörte, auch wenn die Mädchen nichts sagten. Die Taschentücher im Kinderheim trugen genau wie persönliche Bekleidungsstücke Monogramme, damit man sie nach der Wäsche gut auseinanderhalten konnte.
Mit einem Ächzen bückte sie sich, packte das weiße Tuch mit spitzen Fingern und hielt es in gebührendem Abstand vor das Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie die eingestickten Zeichen. Mia konnte ihr Gebiss nicht mehr kontrollieren.
Mit vernehmlichem Klacken begannen die Zähne aufeinanderzuschlagen. Sie hörte Karli neben sich »Mia!« flüstern und sah mit weit aufgerissenen Augen, wie die Gurich näher kam.
»Na, ist es euch inzwischen eingefallen, wem das hier gehört?« Mit einer heftigen Handbewegung schleuderte sie das Taschentuch in Mias Gesicht. Karli sog scharf die Luft ein, und Mia spürte zwei warme Tränen über ihre Wangen nach unten rollen. Die dicke Susi kicherte ganz kurz und unterdrückte das Geräusch sofort.
»Von allen hier bist du die Oberschlampe, Mädchen!« Miss Piggy hatte sich von Anfang an auf die kleine Mia eingeschossen. Die Erzieherin hatte ein feines Gespür für die Schwächsten, für die, die am sensibelsten waren, die Demütigungen nicht einfach an sich abprallen lassen konnten.
»Du pisst ins Bett, du räumst nicht auf, du wirfst deine vollgerotzten Taschentücher einfach so auf den Fußboden. Das muss aufhören, Fräulein!« Die Gurich griff nach Mia und quetschte ihren dünnen Oberarm zusammen. »Ich finde es besonders schlimm, dass ich dir das nicht zum ersten Mal sage. Anscheinend bist du störrischer, als ich anfangs dachte. Du musst dir wirklich mehr Mühe geben!«
»Hören Sie, bitte! Ich werde Mia helfen!« Karli, die inzwischen ihr Buch aufgehoben hatte, bewegte sich auf die Erzieherin zu. Ein heldenhafter Versuch. Leider vergebens. Die Gurich zerrte ihr Opfer schon in den Flur, wobei sie so tat, als nähme sie die Worte des anderen Mädchens nicht wahr. Mias Oberarm im eisernen Klammergriff, stieg sie die Treppen hinab bis in den Eingangsbereich.
»Los, beweg dich ein bisschen! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!« Mia konnte die Tränen nicht mehr aufhalten. Zwei heißen Rinnsalen gleich strömten sie über ihr Gesicht, an den Mundwinkeln vorbei, trafen sich am Kinn und tropften dann auf die gemusterten Steinfliesen. Rechts neben der Eingangstür
ging es in den Keller. Die schwere Holztür schwang geräuschlos auf. Jemand ölte die Scharniere regelmäßig, damit sie keinen Lärm machten. Das Mädchen hinter sich herziehend, stapfte die Gurich abwärts. Trübes gelbes Licht erhellte den Gang nur unzureichend. Mia leckte salzige Flüssigkeit aus den Mundwinkeln und bemühte sich, nicht zu schniefen, denn das hasste die Gurich besonders.
Sie war noch nie hier unten gewesen. Die Luft hatte einen muffigen Geruch. Es ging an mehreren Brettertüren mit Vorhängeschlössern vorbei. Sie bogen zweimal ab. Dann stoppte die Erzieherin vor einer massiven Metalltür. »So, Mädchen. Da wären wir.« Während sie in ihrer
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