Sensenmann
Hosentasche nach den Schlüsseln suchte, rieb sich Mia den linken Oberarm, den die Gurich endlich aus der Schraubzwinge freigegeben hatte.
»Hier wirst du Zeit zum Nachdenken haben. Ausreichend Zeit. Nutze sie.« Der Schlüssel drehte sich im Schloss. »Wenn ich dich wieder abhole, kannst du mir sagen, ob du etwas dazugelernt hast.« Auch diese Tür öffnete sich lautlos. Die Erzieherin gab Mia einen Stoß in den Rücken, sodass sie in die Finsternis taumelte, und schlug die Tür hinter ihr zu.
Verblüfft betrachtete Mia Sandmann das gegenüberliegende Haus. Über dem Schornstein stand ein pausbäckiger heller Mond. Weiß blinkten ein paar Sterne. Weicher Duft von Geranien lag in der Luft. Sie stand auf ihrem Balkon, an die Brüstung gelehnt, und hatte die Finger um den Rand der Blumenkästen gekrallt. Der Saum des Nachthemdes wehte um ihre nackten Unterschenkel. Ihr Rücken schmerzte. Nur langsam löste sich die Starre. Wie lange stand sie schon draußen und stierte in den Mond? Sie musste im Schlaf aufgestanden und hier herausgekommen sein. Mia senkte den Blick und schaute auf die Straße hinab, auf die dunklen Buckel der Pflastersteine. Was hatte sie mitten in der Nacht auf ihrem Balkon gewollt? Sie fühlte getrocknete
Tränen auf ihrem Gesicht. Vorsichtig löste sie die Finger und tastete sich zurück ins Wohnzimmer. Anscheinend schlafwandelte sie jetzt zu allem Unglück auch noch.
Erst in der Küche schaltete sie eine Lampe ein. Gelb blendete das Licht ihre müden Augen. Es war halb vier. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet. Durst.
Die leere Weinflasche stand noch neben der Spüle. Zwei gierige Fruchtfliegen hatten es sich auf dem Rand gemütlich gemacht. Im Vorratsschrank lagerten noch mehrere Flaschen Rotwein. Aber sie konnte nicht schon wieder Alkohol trinken. Der machte ohnehin alles nur schlimmer, und einen Kater konnte sie nicht gebrauchen. In wenigen Stunden musste sie aufstehen. Mia goss sich ein Glas Orangensaft ein, setzte sich an den Küchentisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Dieses furchtbare Kinderheim! Es tauchte in letzter Zeit immer dann auf, wenn sie am wenigsten damit rechnete, und raubte ihr den Schlaf und die Ruhe. Die ganzen Jahre hatte sie keinen bewussten Gedanken an ihre Kindheit verschwendet, hatte gearbeitet, gelebt, erstklassig funktioniert – trotz ihrer schlimmen Vergangenheit. Und auf einmal drehte das gesamte System durch wie ein Computer, der sich einen Virus eingefangen hatte. Entgegen ihren Hoffnungen hörte das Ganze auch nicht wieder von allein auf. Im Gegenteil, die Zustände schienen sich zu verschlimmern. Hier konnte wirklich nur noch professionelle Hilfe etwas bewirken.
Der Saft schmeckte bitter. Mia goss das halbvolle Glas in die Spüle, löschte das Licht und begab sich zurück in ihr Schlafzimmer. Vielleicht gelang es ihr, noch ein wenig zu schlafen.
»Und jetzt möchten Sie gern einen Termin?« Die Frauenstimme am anderen Ende hatte einen beruhigenden Klang.
»Eigentlich wollte ich mit Doktor Grünthal sprechen.« Mia schluckte. »Ich habe die Nummer von seiner Bekannten bekommen, Lara Birkenfeld.«
»Das habe ich verstanden, Frau Sandmann. Ich kann Sie aber im Moment nicht zum Doktor durchstellen. Vielleicht sagen Sie mir kurz, um was es geht, und ich schaue, ob ich einen freien Termin für Sie finde.« Papier raschelte.
Ich hab es dir doch gleich gesagt! Das bringt nichts! »Lass mich in Ruhe!«
»Haben Sie etwas gesagt?«
»Nein, nein.« Mia erhob sich vom Schreibtisch und begann, im Arbeitszimmer auf und ab zu gehen. Das fehlte noch, dass die Stimme ihr beim Telefonieren dazwischenquatschte. Die Sprechstundenhilfe schien nicht überrascht zu sein. Vielleicht hatte sie es öfter mit Patienten zu tun, die unsinnige Äußerungen machten. »So, Moment noch. Heute ist Dienstag.« Wieder raschelte es. »Wir haben diese Woche nur am Mittwoch, also morgen, noch etwas frei, weil ein Patient abgesprungen ist. Um sechzehn Uhr. Dann erst wieder nächste Woche am Dienstag. Von wo kommen Sie denn?«
»Leipzig.« Mia bewegte den Unterkiefer von links nach rechts.
»Aha. Soll ich Sie also für morgen einschreiben?« Die Schwester fragte nicht, warum die Anruferin sich nicht in ihrer eigenen Stadt nach Hilfe umsah, sondern stattdessen einen Psychotherapeuten in Berlin aufsuchen wollte.
»Ja.« In Mias Kopf summte ein Schwarm wildgewordener Wespen.
»Gut, Frau Sandmann. Mittwoch, das ist der 29. Juli, um sechzehn Uhr. Erscheinen Sie bitte etwas
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