Sensenmann
Datum und Uhrzeit, wo Sie sich gerade befanden, als der Rückblick begann, und was der Auslöser dafür gewesen sein könnte. Scheuen Sie sich nicht vor Vermutungen. Außerdem sind alle Einzelheiten wichtig: Was sehen, hören, riechen Sie dabei? Wenn Sie nicht gern schreiben, sprechen Sie es auf ein Diktiergerät. Jedes Detail ist von Bedeutung.« Mia trank noch einen Schluck. Das Wasser war lauwarm. Ganz leise klingelte irgendwo ein Telefon.
»Sie haben letztes Mal auch erwähnt, dass Sie Stimmen hören.« Er wartete, bis sie ihn ansah. »Sind es verschiedene? Ist das, was sie sagen, situationsangemessen, oder kommt es Ihnen eher sinnlos vor? Geben Ihnen die Stimmen Befehle?«
»Darauf habe ich noch nicht so geachtet. Das, was sie sagen, ist schon unterschiedlich. Manchmal sind es auch Anweisungen.« Genau! Zum Beispiel, dass du jetzt verschwinden sollst! Es reicht wirklich!
»Dann nehmen wir das mit in die Dokumentation auf. Und dazu auch die Träume, von denen Sie sprachen. Wir sollten eine Art Tagebuch mit den Rubriken ›Flashbacks‹, ›Träume‹ und ›Stimmen‹ führen. Schaffen Sie das?«
»Ich werde mir Mühe geben.« Sie schielte auf den linken Arm des Doktors. Nirgendwo im Sprechzimmer war eine Uhr zu sehen. Wahrscheinlich brachte das die Patienten bloß durcheinander. Mia unterdrückte den plötzlichen Würgereiz beim Anblick der gekräuselten schwarzen Härchen, die den Handrücken des Arztes bedeckten.
»Gut, Frau Sandmann. Das nächste Mal unternehmen wir einen kleinen Ausflug in Ihr Unterbewusstsein und vielleicht auch in die Vergangenheit. Ich möchte mir Ihren Apothekerschrank einmal genauer ansehen.« Er lächelte kurz.
Das kannst du vergessen, Hirnklempner! Auf gar keinen Fall!
»In Ordnung.« Mia überlegte noch, ob sie dem Arzt sagen sollte, dass die Stimme in ihrem Kopf schon wieder unentwegt Kommentare abgab, als er sich erhob. Die Sprechstunde war beendet. Vor ihren Augen flackerte das Bild eines altertümlichen Apothekerschrankes mit hunderten von Geheimfächern.
29
Die Walking-Stöcke hinterließen bei jedem Schritt ein klickendes Geräusch auf dem Asphalt, das noch eine Weile in der Luft zu schweben schien, bevor es vom nächsten »Klack« übertönt wurde.
Rainer Grünkern stieß die Arme dynamisch nach vorn und ließ sie dann zurückschwingen, wobei er sich bei jedem Schwung kraftvoll abstieß. Von Weitem sah er aus wie ein Skilangläufer, der unbedingt das Rennen gewinnen wollte. Noch dreihundert Meter bis zu den grauen Blocks der Heizungshäuser, und dann konnte er auf einen Weg ins Grüne abbiegen, der aus dem Wohngebiet hinaus in Richtung See führte.
Er sog im Takt der Schritte Luft bis in den Bauchraum und
blies den Atem gleichmäßig wieder aus. Ein. Aus. Ein ruhiger Strom. Weder keuchte noch hechelte er. Rainer Grünkern war stolz auf den Zustand seines Körpers, auch wenn er sich unaufhaltsam den siebzig näherte. Sport hielt fit. Und er wollte noch lange fit bleiben. Das Leben hatte noch so viel Interessantes zu bieten.
Obwohl es erst kurz vor zehn war, brannte die Sonne ihm schon heftig auf Kopf und Schultern. Links hinter den Garagenreihen röhrte ein Benzinrasenmäher. Das Gras an den Wegrändern war vertrocknet. Er schaute kurz nach oben in den Himmel. Nicht ein Wölkchen trübte das Gletscherblau. Von vorn näherte sich ein älterer Mann mit einem kleinen schwarzen Hund. Der Köter kläffte schon von Weitem. Rainer Grünkern ergötzte sich kurz an der Vorstellung, dem Tier im Vorübergehen einen festen Tritt in die Seite zu versetzen, sodass das Vieh hochkant in die Büsche flog, ehe er seine Stöcke fester packte und mit einem Grinsen vorbeiwalkte. Der Pfad führte jetzt leicht bergab. Das dichte Laubdach der Bäume spendete Schatten. Rainer Grünkern war jetzt ganz allein. Ein Luftzug kühlte seinen Nacken und die nackten Unterarme. Er erhöhte das Tempo.
An den Wochenenden absolvierte er nur seine »kleine Tour« – genau sieben Kilometer und dreihundert Meter, beginnend an seiner Haustür und wieder zurück. Er hatte die Distanz ausgemessen. Sieben Kilometer und dreihundert Meter am Sonnabend und sieben Kilometer und dreihundert Meter am Sonntag. Machte zusammen knapp fünfzehn Kilometer. Genug, um in Form zu bleiben. An den Wochentagen nahm er sich die längere Strecke vor. Elf Kilometer und sechshundert Meter, um genau zu sein. Die große Tour in der Woche vormittags, wenn die Schönwettersportler nicht unterwegs waren. Er wollte seine Ruhe
Weitere Kostenlose Bücher