Sensenmann
haben und wählte deshalb an den Wochenenden, wenn alle und jeder unterwegs waren, die kurze Strecke. Da er Rentner war, konnte er sich darauf einstellen.
Sport war essentiell, auch im Alter. Er verachtete die fettgewordenen Krüppel, die sich nur noch von zu Hause zum Supermarkt und wieder zurück bewegten. Rainer Grünkern hatte sein Leben lang Sport getrieben. Sein Körper war ihm wichtig. Früher war es Kraftsport gewesen, jetzt Ausdauersport. Nachdem er in Rente gegangen war, hatte er es zuerst mit Jogging versucht, aber schnell festgestellt, dass seine Kniegelenke die Dauerbelastung nicht mitmachten. Und so war es bei Nordic Walking und Fahrradfahren geblieben. Er wechselte die Art der Ertüchtigung ab. Im Sommer gleichmäßig: vormittags Walking, nachmittags und für Besorgungen das Fahrrad. Einen Ruhetag gab es nicht. Im Winter musste er das Fahrrad manchmal im Keller lassen, wenn es zu viel geschneit hatte, aber Walking ging immer. Er gestattete sich selbst keine Auszeit. Frische Luft förderte die Gesundheit, sommers wie winters. Ausreden à la schlechtes Wetter, Mattigkeit oder einfach nur Unlust gab es bei ihm nicht.
Rainer Grünkern schaute auf seinen Pulsmesser und erhöhte die Schrittfrequenz. Zehn Schläge mehr waren noch im grünen Bereich.
Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Die Bäume schüttelten ihre Wipfel, das Rauschen der Blätter nahm für einen Moment zu, und er fröstelte leicht. Doch ein Blick über die Schulter bewies, dass niemand da war. Nur der Wald und er. Obwohl das hier kein richtiger Wald war, eher ein Wäldchen. Noch fünfhundert Meter, dann traf man auf einen Bach, der sich durch die Wiesen mäanderte und an dem sich der Weg gabelte. Linksherum kam man wieder ins Wohnviertel zurück, rechtsherum ging es noch etwa einen Kilometer am Bach entlang durch den Wald, bis man auf eine Siedlung von Einfamilienhäusern stieß.
Rainer Grünkern walkte immer allein. Für die Frauengruppen, die ihm ab und zu bei schönem Wetter entgegenkamen und die man schon lange, bevor sie sichtbar wurden, hören konnte, hatte er nur Verachtung übrig. Die Weiber missbrauchten den
Sport zum Tratschen. Außerdem hatten sie keine Ahnung, wie die Stöcke richtig eingesetzt wurden. Es ging ihnen nicht um Körperertüchtigung, sondern um Kaffeeklatsch ohne Kaffee.
Um ihn herum war es still. Nur die Stöcke gaben ihr regelmäßiges Geräusch von sich, das jetzt kein Klacken mehr war, sondern einem gedämpften »Pock, Pock« glich. Rainer Grünkern dachte an seine Vorhaben für den restlichen Tag. Nach dem Mittagessen würde er Einkäufe erledigen und auf dem Rückweg in der Videothek vorbeiradeln. An den Samstagabenden gönnte er sich immer etwas Besonderes. Der Nachmittag war für seine Chat-Freunde reserviert. Bei der Vorstellung, wer heute alles online sein würde und was sie miteinander besprechen würden, befeuchtete er unbewusst die Lippen mit der Zunge. Er konnte zwar jederzeit chatten, aber an den Wochenenden waren immer besonders viele nette Ansprechpartner im Netz. Sein Puls galoppierte davon und überschritt den idealen aeroben Bereich, ohne dass er die Schrittfrequenz erhöht hatte.
Rainer Grünkern drosselte das Tempo ein wenig und bemühte sich, tiefer zu atmen.
Am Bach bog er rechts ab. Sein Blick glitt über die Erlensträucher. Weiter vorn schimmerte in Augenhöhe etwas Helles zwischen den Stämmen hindurch.
Eine Frau in zartblauem Jogginganzug kam ihm entgegen. Ihr blondes Haar umrahmte das Gesicht und wippte bei jedem Schritt. Von Weitem sah sie sehr hübsch aus. Rainer Grünkern stand auf blondes Haar – immer noch.
Die Blondine kam schnell näher, und er bemerkte, dass sie älter war, als es aus der Ferne den Anschein gehabt hatte. Als sie dicht vor ihm war, korrigierte er seine Schätzung auf vierzig. Viel zu alt für seinen Geschmack, er mochte junges, zartes Fleisch. Trotzdem bekam die Frau ein herzliches Lächeln, das sie schüchtern erwiderte.
Ein kräftiger Mann folgte in etwa hundert Metern Abstand.
Rainer Grünkern wunderte sich einen Augenblick lang über den Betrieb auf dieser abgelegenen Strecke, erklärte sich das Ganze aber schnell damit, dass Wochenende und bestes Wetter war. Das trieb mehr Leute als sonst aus ihren Behausungen. Ein Blick auf die Pulsuhr zeigte, dass er wieder im aeroben Bereich war. Der kräftige Mann war herangekommen, und Rainer Grünkern hatte das Gefühl, zu gründlich gemustert zu werden. Er fühlte sich für einen Moment unwohl und sah
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