Sensenmann
Problem, ihre Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Aber vielleicht war gerade das seine Masche: Gelassenheit zu vermitteln.
»Haben Sie eine Vorstellung, warum gerade diese Erinnerungen an das Kinderheim Sie immer wieder verfolgen?«
»Ich war lange dort.« Er hob die Augenbrauen. Das war keine Erklärung, Mia wusste es selbst. Sie würde mit etwas mehr herausrücken müssen, schließlich wollte sie, dass der Arzt ihr half. Willst du das wirklich? Sei still. Jetzt bin ich dran.
»Dinge sind dort geschehen, dessen bin ich mir sicher. Unangenehme Dinge. Ich kann aber nicht sagen, was es im Einzelnen war. Es gibt bis auf diese kurzen Flashbacks nur das Gefühl einer ständigen Bedrohung.« Der Arzt nickte, und Mia setzte hinzu: »Genauer kann ich es nicht ausdrücken.«
»Das ist in Ordnung. Deswegen sind Sie ja jetzt bei mir. Ich bin überzeugt, wir bekommen das alles in den Griff.« Er lächelte sein wohlwollendes Lächeln. »Zuerst einmal müssen wir herausfinden, was die eigentliche Ursache Ihrer Probleme ist. Dann können wir darangehen, alles aufzuarbeiten. Das wird einige Zeit dauern, denn ich glaube, es ist noch vieles verborgen, von dem Ihr Bewusstsein nichts ahnt. Das Unterbewusstsein hält die Erinnerungen verschlossen, um Sie nicht zu sehr damit zu belasten. Stellen Sie sich das Ganze wie einen großen Apothekerschrank mit unzähligen kleinen Schubladen vor. In jeder Schublade liegt ein Teil der Vergangenheit. Manche können Sie ganz einfach aufziehen, andere sind verriegelt, weitere sehen Sie im Moment noch gar nicht. Ich nenne sie die ›Geheimfächer‹. Zu den verschlossenen Schubfächern verwahrt Ihr Unterbewusstsein die Schlüssel, aber es rückt sie nicht heraus. Verstehen Sie das?« Mia nickte. Ihre Hände zitterten leicht. Was der Arzt sagte, machte ihr Angst.
»Sie arbeiten sehr gut mit, Frau Sandmann. Es ist auch ganz
normal, dass Sie sich ein wenig fürchten. Dem Bewusstsein bereitet nämlich die Vorstellung, dass es einen unbewussten Seelenzustand gibt, beträchtliche Schwierigkeiten. Es gibt sogar eine Instanz in uns, die das Unbewusste unbewusst halten will.« Er lächelte stärker. »Klingt verrückt, nicht?«
»Und das ist bei jedem so?«
»Davon können wir ausgehen.« Der Arzt wurde wieder ernst. »Im Laufe der Therapie schauen wir uns nun zuallererst einmal die Schubladen von außen an. Dann suchen wir den Schlüssel und öffnen sie ganz vorsichtig, Fach für Fach. Wir müssen dabei behutsam vorgehen und die Inhalte nach und nach hervorholen, damit es nicht zu schmerzhaft für Sie wird.«
Mias Hände zitterten stärker. »Was ist mit den Geheimfächern?«
»Die Geheimfächer … Sie können es sich bestimmt denken. Warum sollte das Unterbewusstsein sie verstecken?« Er holte Luft. »Dort sind Inhalte verborgen, die das Weiterleben der betroffenen Person bedrohen können, wenn sie ungefiltert ins Bewusstsein gelangen. Das Unterbewusstsein hält sie nicht umsonst geheim.«
»Was passiert dann damit?« Mia hörte ihre eigene Stimme wie durch Watte. Sie klang wie die eines ängstlichen Kindes. In ihrem Kopf flüsterte jemand, sie solle sich bloß in Acht nehmen.
»Wenn wir auf so etwas stoßen, lassen wir die Schublade zuerst einmal geschlossen. Man darf sie auf keinen Fall mit der Brechstange aufhebeln. Was wir dann damit tun, entscheiden wir, wenn es so weit ist.«
»Kann man sie nicht einfach zulassen?« Jetzt flehte Mia fast. Sie wünschte, sie hätte ihre Handtasche nicht auf den Boden gestellt. Dann hätte sie jetzt etwas, um ihre zitternden Hände zu beschäftigen.
»Natürlich lassen wir sie geschlossen, keine Angst, Frau Sandmann. Nichts geschieht ohne Ihr Einverständnis. Möchten Sie
etwas trinken?« Doktor Grünthal wartete nicht, bis sie genickt hatte, sondern hatte sich schon erhoben und war zu einem kleinen Schränkchen neben dem Schreibtisch gegangen. Mit einer Flasche stillen Mineralwassers kehrte er zurück, goss ein und setzte sich wieder. Mia trank, ohne abzusetzen, das halbe Glas leer und atmete tief durch. Das hier war anstrengender, als sie es sich vorgestellt hatte. Der Arzt wartete geduldig, die Hände locker vor dem Bauch gefaltet. »Geht es wieder?« Sie nickte, und er sah zur Uhr. »Wollen wir fortsetzen?«
Nein! Pack deine Sachen und verschwinde! Der Quacksalber bringt dich nur noch mehr durcheinander! »Ja. Machen wir weiter.«
»Was die Sache mit den Flashbacks angeht, Frau Sandmann: Könnten Sie bitte in Zukunft alles genau dokumentieren:
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