Sensenmann
verlangen. Verstehst du?«
»Ja. Dann brauchen sie uns nicht mehr einzusperren.«
»Genau. Und nun können wir uns aneinander festhalten und ich erzähle dir die versprochene Geschichte.« Zwei Arme umschlangen Mia, und sie fühlte sich geborgen. Fest drückte sie sich an das andere Mädchen. Sie hatte eine neue Freundin gefunden.
Maria Sandmann öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf verschmierte schwarze Buchstaben. Fuck you all. Die rechte Hand hatte sich in einem schmerzhaften Krampf um das Treppengeländer gekrallt, die Fingernägel schnitten in den Handballen. Weiß traten die Knöchel hervor. Sie konnte sich selbst keuchen hören. Auf ihren Wangen trockneten Tränen.
So viel zum Ausbleiben der Flashbacks.
Weiter oben klappte eine Tür, unmelodisches Pfeifen ertönte, schnelle Schritte näherten sich. Mia löste ihre Finger. Ihre Muskeln fühlten sich an, als seien sie aus Pudding. Die Armbanduhr verkündete, dass sie eine geschlagene Viertelstunde hier im Treppenhaus gestanden hatte. Fünfzehn Minuten, die Mia Sandmann in einer Arrestzelle im Keller des Kinderheims gewesen war. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Beine funktionierten. In ihren Armen kribbelte eine Ameisenarmee.
»Tag, Frau Sandmann! Schönen Feierabend!« Der Kollege eilte vorbei. Mia sah ihm nach, während sie sich weiter wie eine Blinde die Stufen hinuntertastete. Noch immer konnte sie die Umarmung fühlen, hörte die tröstenden Worte der Leidensgenossin. Der Erinnerungsschub war erschreckend real gewesen. Ungewöhnlich auch, dass er sich am helllichten Tag ereignet hatte. Was mochte der Auslöser gewesen sein?
Vorsichtig öffnete Maria Sandmann die Tür zum Hof und blinzelte in die Mittagssonne. Ein Gutes hatte das Ganze jedenfalls – jetzt hatte sie etwas, das sie dem Doktor erzählen konnte.
»Guten Tag, Frau Sandmann. Kommen Sie herein.« Der Arzt lächelte, hielt die Tür auf und folgte ihr. Mias Blick fiel auf die Couch, und sie schaute schnell weg. Schnurstracks steuerte sie auf das Tischchen zu. Die Sitzgruppe schien ihr am ungefährlichsten. Der Doktor wartete, bis sie Platz genommen hatte, und setzte sich dann in den Sessel ihr gegenüber. Heute hatte er ein rosafarbenes Hemd an. Es machte ihn jünger. Mia faltete die Hände über dem Griff der Handtasche. Als ihr einfiel, dass sie kooperieren wollte, stellte sie die Tasche auf den Boden und legte die Arme auf die Oberschenkel.
»Nun, Frau Sandmann – wie fühlen Sie sich denn heute?«
»Es geht so.«
»Das hieße weder schlecht noch gut?«
»Ich hatte heute Mittag wieder einen dieser Flashbacks. Bis dahin war allerdings alles in bester Ordnung, und ich dachte schon, die Störungen hätten nach unserem Gespräch am Mittwoch aufgehört und alles wäre wieder beim Alten.« So schnell hört das nicht auf, Schätzchen. Etwas kicherte zu den Worten in Mias Kopf, und sie schob den Unterkiefer vor.
»Erzählen Sie mir davon.«
Während Mia berichtete, schaute der Arzt aufmerksam in ihr Gesicht, nickte zwischendurch und kritzelte ab und zu ein paar unleserliche Krakel auf seine Karteikarte.
»Es war also eine Rückblende an ein Erlebnis in dem Kinderheim, in dem Sie waren.«
»Ja.« Der ferne Klang ihres eigenen Schluchzens hallte in Mias Kopf nach, und sie fühlte Michaelas Arme um sich.
»Wie wirklich kam Ihnen die Situation in dem Moment, als die Erinnerung Sie überfiel, vor?«
»Ich war dort . In dem dunklen, stickigen Keller, zusammen mit diesem neuen Mädchen, Michaela. Es war Realität .«
»Ich verstehe.« Noch ein Krakel auf der Karteikarte. »Das war also im Gegensatz zu vorherigen Erlebnissen dieses Mal ein sehr plastischer und detailgetreuer Blick in die Vergangenheit, wenn ich das richtig verstanden habe?«
»Das kann man so sagen.« Mia erschauerte. Es war nicht nur »detailgetreu«; in den fünfzehn Minuten im Treppenhaus war das die Wirklichkeit gewesen.
»Gut, Frau Sandmann. Wenn ich Sie das letzte Mal richtig verstanden habe, kommen Erinnerungen an Ihren Aufenthalt im Kinderheim immer wieder hoch, meist jedoch unscharf und unvollständig.« Mia nickte. »Sind auch positive Dinge dabei?«
Jetzt schüttelte Mia den Kopf und beobachtete dabei, wie der Stift über das Papier flog. »Nein. Schöne Sachen habe ich bisher nicht gesehen.« Da wird auch nichts kommen, Dummchen. Weil es nichts Positives gab.
»Ich verstehe.« Doktor Grünthal schaute Mia in die Augen. Er wirkte ganz gelassen. So, als sei es für ihn kein
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