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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
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Verschwinden einen Arztbesuch genannt. Es war immer besser, man hatte eine Begründung.
Und »Arztbesuch« war nicht einmal gelogen. Die Kollegen glaubten natürlich, es hinge mit dem Brechdurchfall zusammen, der Mia am Mittwoch von der Arbeit ferngehalten hatte. Erbrechen und Durchfall konnten jeden treffen, und es gab unzählige Ursachen dafür. Da die Kollegin am nächsten Tag schon wieder ins Amt gekommen war, hatte niemand ernsthaft nachgehakt. Und nun musste sie eben noch einmal in die Sprechstunde. Dass es sich bei dem Arzt um einen Psychologen handelte, der seine Praxis in Berlin hatte, brauchte niemand zu wissen.
    Mia öffnete die Tür zum Treppenhaus. Als hätte ein einziges Gespräch mit Doktor Grünthal am Mittwoch ausgereicht, hatte sie seitdem keinerlei Symptome mehr gespürt. Kein Wispern im Kopf, kein Schlafwandeln, keine Flashbacks. Ja, sie hatte sogar darüber nachgedacht, den heutigen Termin abzusagen, sich dann aber dagegen entschieden. Ein weiteres Gespräch konnte nichts schaden.
    Sie ließ ihre Hand über das Metallgeländer gleiten. Jemand hatte »fuck you all« an die weißgraue Wand geschmiert. Im Treppenhaus dieses alten Kastens roch es immer ein wenig muffig, wie in einem schlecht belüfteten Keller. Maria Sandmann hörte ein Schluchzen.
     
    »Sei still, sonst kriegen wir Ärger!« Die Stimme war nur ein Hauch. Mia wischte sich mit dem Unterarm über Mund und Nase und gab sich Mühe, ihr Wimmern zu unterdrücken.
    »So ist es viel besser. Sie mögen es hier nicht, wenn wir jammern. Du musst die Zähne zusammenbeißen und tapfer sein.« Mia spürte eine zarte Berührung an ihrer Schulter. »Wie heißt du?«
    »M… Mia.«
    »Schöner Name. Rück ein bisschen herüber. Ich sitze links von dir.«
    »Ich kann nichts sehen!«

    »Das ist auch kein Wunder, Kleine. Wir sind in einem Keller ohne Fenster, da gibt es kein Licht. Aber wir können leise miteinander sprechen und uns aneinanderkuscheln.« Eine Hand zog an ihrem Oberarm. »Komm.« Mia konnte sich nicht erinnern, wo rechts und wo links war, und so rutschte sie einfach ein paar Zentimeter in die Richtung, aus der die Berührung kam.
    »Warum bist du hier?«
    »Die G…«, noch immer wurde Mia von Schluchzern geschüttelt, »die Gurich hat mich hergebracht. Ich bin eine Schlampe, weil ich Taschentücher einfach so ins Zimmer schmeiße.«
    »Das bist du nicht. Sicher ist dir das Tuch nur aus der Tasche gefallen, und du hast es nicht gleich bemerkt, oder?«
    »Ja, aber ich … ich …«
    »Atme tief durch. So ist es gut.«
    »Ich bin ein Schwein. Ich mache ins Bett!« Jetzt war es heraus. Mia hatte die schreckliche Tat nur beichten können, weil es so finster war, dass die andere nicht sehen konnte, wie sehr sie sich schämte.
    »Das kann doch jedem mal passieren. Mach dir nichts draus. Du bist weder ein Schwein noch eine Schlampe. Du bist ein kleines, verängstigtes Mädchen.« Die andere streichelte ihren Arm. »Und nun hör auf zu weinen. Ich bin bei dir.«
    »Ich fürchte mich im Dunkeln!«
    »Das brauchst du nicht. Außer uns beiden ist niemand hier, keine Monster, keine Geister. Wir müssen bloß die Dunkelheit aushalten. Und das schaffen wir gemeinsam locker, nicht?«
    Allmählich wurde Mia ruhiger. Das Schluchzen verebbte und sie versuchte, ruhig ein- und wieder auszuatmen. »Wer bist du?«
    »Ich heiße Michaela.«
    »Ich hab dich hier noch nie gesehen!«
    »Ich bin neu.«
    »Und da hat dich die Gurich auch gleich in den Keller gesperrt?«

    »Um mich zu disziplinieren, vermutlich.« Mia konnte hören, dass das andere Mädchen dabei lächelte. »Ich war bei meiner Ankunft nicht besonders folgsam. Aber ist es nicht auch ein Glück, dass ich hier bin? So bist du wenigstens nicht allein in dieser Arrestzelle!«
    »Ja, das stimmt. Bleibst du jetzt hier?«
    »Einige Zeit mit Sicherheit.«
    »Ich muss mal!«
    »Versuch, es auszuhalten, Schatz. Wenn es gar nicht anders geht, krabbelst du da rüber in die Ecke und machst es dort. Besser wäre es aber, du könntest es anhalten. Wenn sie es nämlich mitbekommen, gibt es mächtig Ärger.«
    »Ich versuch’s.« Mia schniefte. Sie konnte es bestimmt noch eine Weile aushalten.
    »Hör zu. Ich erzähle dir gleich eine Geschichte, dann wird die Zeit nicht so lang. Nur eins noch: Wenn sie uns holen, tun wir so, als hätten wir uns ganz doll gefürchtet, und versprechen, in Zukunft immer brav zu sein. Wir versprechen, uns Mühe zu geben, und sagen, dass wir alles tun werden, was sie von uns

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