Sensenmann
unterdrückte das unbändige Bedürfnis. Nicht in diesem fremden Männerbadezimmer. Das musste warten, bis sie wieder daheim war, in der Sicherheit ihrer Wohnung. Auch die Wäsche ekelte sie an, diese glühend rote Spitze, die auf der Haut brannte wie Feuer und permanenten Juckreiz verursachte. Im Aufrichten erhaschte Mia einen Blick auf ihr bleiches Gesicht und wandte sich sofort ab. Das Rasierzeug neben dem Waschbecken ließ Bilder des Brustpelzes aufblitzen, und sie schaffte es gerade noch bis zur Toilette, ehe ein Schwall grünlich gelber Flüssigkeit sich ins Becken ergoss. Der Brechreiz hielt minutenlang an, und Mia schaffte es nicht, sich aufzurichten. Was hatte sie getan? Wo waren ihre Erinnerungen? Erst nach einigen Minuten erhob sie sich, zog die Spülung und tastete sich zum Waschbecken. Kaltes Wasser rauschte aus dem Hahn, und Mia schöpfte und rieb sich das Gesicht ab, ehe sie einige Schlucke trank. Ihr Gesicht trocknete sie mit dem Ärmel, weil sie die beiden Handtücher neben dem Waschbecken nicht berühren konnte.
Auch jetzt schaute sie nicht in den Spiegel.
Die Klinke der Badtür in der Hand blieb sie stehen und sortierte ihre Gedanken. Ihr fehlten Pumps und Handtasche. Beides lag im Flur. Sie musste nicht noch einmal in das Schlafzimmer. Ungestüm stieß sie die Tür auf und schlüpfte im herausdringenden Lichtkegel der Badezimmerlampe in ihre Schuhe.
»Willst du gehen?« Frank Schweizer stand im Türrahmen des Schlafzimmers. Er hatte sich inzwischen eine Boxershorts angezogen. Mia sah seine behaarte Brust und fühlte, wie ihr Magen sich erneut zusammenkrampfte, während sie blind nach ihrer Handtasche tastete. Ihr war, als hielte jemand ihre Kehle umfangen und drückte immer fester zu. Endlich fanden die Finger den Taschengriff.
»Mia?« Der Journalist machte einen Schritt auf sie zu, und Mia floh. Floh, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, ohne auf den Weg zu achten, die glatten Steinstufen hinunter bis auf die Straße, rannte, ohne nachzudenken, in die Nacht. In ihrem Kopf höhnte die Stimme Beleidigungen wie »Flittchen« und »Schlampe«.
30
MITHILFE VON DAUMENSCHRAUBEN KONNTE DIE INQUISITION DIE FINGERGLIEDER DES DELINQUENTEN LANGSAM ZERQUETSCHEN, SO LANGE, BIS DAS BLUT HERVOR-SPRITZTE. DIE PROZEDUR DAUERTE BIS ZU EINER STUNDE. GESTAND DER GEFOLTERTE NOCH IMMER NICHT, GRIFF MAN ZU DEN BEINSCHRAUBEN, DIE AUCH »SPANISCHER STIEFEL« GENANNT WURDEN. AUCH DAS HINEINTREIBEN SPITZER GEGENSTÄNDE WIE NÄGEL, NADELN ODER KLINGEN UNTER FINGER- ODER FUSSNÄGEL WAR EINE BELIEBTE METHODE, JEMANDEN ZUM REDEN ZU BRINGEN.
Matthias Hase sah dem Mann vom Auto aus nach. Die im Takt schwingenden Stöcke gleißten wie flüssiges Silber. Rainer Grünkern entfernte sich schnell. Matthias scannte das Ziffernblatt seiner Armbanduhr und rechnete die Ankunftszeit aus. Sein Zielobjekt funktionierte wie ein mechanischer Affe. Er walkte jeden
Tag, am Wochenende anderthalb Stunden, in der Woche eine Stunde länger, weil er da eine größere Tour absolvierte. Heute war Sonntag, das hieß, Matthias hatte insgesamt neunzig Minuten zur Verfügung, bis der Mann wieder hier war. Das war ausreichend Zeit, um sich ein wenig in Grünkerns Wohnung umzusehen. Die Uhr zeigte 9:55 Uhr. Mit dem eingeplanten Sicherheitspuffer musste er spätestens um elf wieder in seinem Auto sitzen. Matthias öffnete die Fahrertür und stieg aus.
Das Klingelbrett zeigte zwanzig Namen. Grünkern stand ganz oben. Also wohnte er vermutlich in der obersten Etage. Matthias Hase fand das sehr gut. Je weiter oben jemand wohnte, desto weniger Leute gingen an dessen Eingangstür vorbei und desto weniger Menschen würden etwaige Geräusche hören, die aus der Wohnung drangen. Matthias studierte die Namen nur kurz, damit für einen außenstehenden Beobachter nicht der Eindruck entstand, er wisse nicht, wohin. Wenn er erst einmal drin war, konnte er sich Zeit lassen. Der Zeigefinger fuhr sanft über die schwarzen Knöpfe und legte sich dann auf einen von ihnen.
Die Gegensprechanlage knackte und knisterte. Dann ertönte der Summer. Matthias konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, während er die Tür mit dem Fuß aufstieß. Die Leute in diesen Plattenbaublocks waren nur an sich selbst interessiert. Klingelte es unten, fragten die meisten von ihnen gar nicht erst, wer da war, sondern drückten einfach den Türöffner. Dass so auch Vertreter und womöglich auch Einbrecher oder Penner ins Haus gelangten, schien sie nicht zu stören.
Matthias
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