Sensenmann
Steinfußboden. »Bist du morgen zu Hause?«
»Ja. Ich muss hier mal wieder ein bisschen für Ordnung sorgen.«
»Fein. Unser letzter Vortrag morgen fällt nämlich aus, und ich bin zwei Stunden eher fertig. Ich könnte auf der Heimfahrt bei dir vorbeischauen, wir trinken gemütlich ein Tässchen Kaffee und reden.«
»Das finde ich super.« Lara durchdachte ihr Programm fürs Wochenende. Das würde knapp werden. Heute würde sie garantiert nicht mehr dazu kommen, ihre Vorahnungen aufzuschreiben. Wer weiß, wann sie heute Nacht von der Ladies’ Night zurück war. Blieb nur Sonntagvormittag.
»Wir waren doch letztes Jahr im Sommer ein paarmal in diesem wunderbaren Freiluftrestaurant, wie hieß es noch gleich, irgendwas mit Bäumen … Wollen wir uns dort treffen? Wie geht es eigentlich Jo?«
»Du meinst das Lindencafé . Und Jo geht es prima.« Dass sie miteinander ausgingen, brauchte sie Mark nicht auf die Nase zu binden.
»Dann lad ihn doch mit ein! Ich hab ihn ja ewig nicht gesehen. Oder stört es dich, wenn er dabei ist?« Mark und Jo hatten sich im letzten Jahr bei der Jagd auf den Serienkiller Martin Mühlmann kennengelernt und waren Freunde geworden.
»Ja und Nein.« Lara sah zur Uhr und erschrak. Seit zehn Minuten hätte sie auf der Fahrt nach Gohlis sein müssen. »Ja zur Einladung, nein zum Stören. Ich muss los, ein dienstlicher Termin.
« Das Telefon am Ohr schlüpfte sie in ihre Ballerinas. »Wann bist du morgen in etwa hier?«
»Gegen zwei, denke ich. Soll ich dich abholen?«
»Gern! Bis morgen, Mark. Und danke.« Sie legte auf.
Der Bleistift trug am hinteren Ende zahlreiche kleine Kerben. Spuren ihrer Zähne. Mia drehte ihn hin und her und ließ die gelb-schwarzen Streifen vor ihren Augen flimmern.
In dem kleinen Buch, das sie gestern Abend gekauft hatte, waren viele leere Seiten. Seiten, die mit Inhalten gefüllt werden sollten. Retrospektiven, Fragmente, Fragen. »Schreiben Sie alles auf, was Ihnen einfällt, zensieren Sie nichts«, hatte Doktor Grünthal gesagt. Sie hatte ein kleines Format gewählt, damit es in jede Tasche passte, denn sie musste es immer dabeihaben, weil die Erinnerungen jederzeit wie ein Rudel hungriger Hyänen über sie herfallen konnten.
Zuerst hatte Mia überlegt, ein Register in das Notizbuch hineinzuschneiden, den Gedanken aber wieder verworfen. Es widerstrebte ihr, das feste elfenbeinfarbene Papier zu beschädigen. Stattdessen hatte sie die Seiten gezählt – es waren exakt einhundertzweiundneunzig – und die Anzahl durch vier geteilt. Zum Glück ging es genau auf – achtundvierzig Seiten pro Rubrik.
Mit einem roten Gelschreiber hatte sie dann in Druckbuchstaben die Überschriften hineingemalt: Flashbacks , Träume , Stimmen und Sonstiges . Was Sonstiges sein würde, wusste sie selbst noch nicht, aber es war immer gut, eine Reserve für das zu haben, was sich nicht zuordnen ließ.
Sorgsam kringelte der rote Stift über jede der vier Rubriken das Datum des heutigen Tages: 01.08. Es gefiel Mia, dass die Eintragungen nicht mitten in einem Monat beginnen würden.
Dann dachte sie über ihr Vorgehen nach. Die Seiten zu den Träumen würde sie immer gleich nach dem Aufstehen ausfüllen.
Da waren die Schlafbilder noch frisch. Für die vergangene Nacht hatte sie leider nichts. Kein noch so winziges Fitzelchen eines Traumes, keine Bilder, keine Geräusche, kein Hochschrecken. Sie hatte geschlafen wie eine Tote.
Mia griff nach dem Bleistift, zögerte, die Graphitspitze zitterte über dem Papier. Schließlich entschloss sie sich, bei Träume »keine« unter das Datum des heutigen Tages zu schreiben, weil es ihr widerstrebte, die Seite freizulassen. Etwas in Mia wollte dem Arzt gefallen, wollte alles sorgfältig ausfüllen; keine Seite, kein Tag durfte ohne Notizen sein. Sie wusste, dass das illusorisch war, weil sie nicht vorhersagen konnte, ob jeden Tag mindestens eins der Ereignisse eintreten würde, und trotzdem bestand ihre innere Stimme darauf, dass es so sein musste. Und ihr Unterbewusstsein hatte auf einem Bleistift bestanden, damit die Eintragungen korrigiert werden konnten. Sie schob den Stift in die Lasche an der Seite, klappte das Gummiband um den Buchblock, legte das Büchlein in ihre Handtasche und zog den Terminplaner heraus. Die nächsten Besuche bei Doktor Grünthal waren am kommenden Dienstag und Freitag. Sie durfte ihre Arbeit über all dem nicht vernachlässigen, die Kinder brauchten sie, aber der Arzt hatte für den Anfang zwei Termine
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