Sensenmann
pro Woche für nötig gehalten. Als »Therapie« konnte man allerdings das, was bis jetzt geschehen war, nicht bezeichnen: Sie redete, und er hatte für alles Verständnis.
Vielleicht hatte die Stimme in ihrem Kopf recht, und der ganze Psychotherapie-Kram war nur Quacksalberei, Zeitverschwendung, leeres Gerede. Was konnte schon durch Plaudern bewirkt werden? Mia schüttelte unmerklich den Kopf. Das musste nicht sofort entschieden werden. Erst einmal abwarten, was in den nächsten Tagen geschah. Heute war Sonnabend, sie hatte genügend Zeit, darüber nachzudenken, ob sie am nächsten Dienstag wieder nach Berlin fahren wollte oder nicht. Viel schlimmer war das, was im Terminplaner für heute Abend stand: Kino, Frank
Schweizer, vorher 18:00 Uhr, Bella Italia . Schon das Essen im Lindencafé am Dienstagabend war im Nachhinein ein Fehler gewesen.
Manchmal verstand Mia sich selbst nicht. Welcher Teufel hatte sie geritten, den Journalisten anzurufen und sich mit ihm zu verabreden? Am Montag im Gericht hatte sie ihn noch nicht einmal eines zweiten Blickes für wert befunden, und am nächsten Tag fahndete sie nach seiner Telefonnummer und rief ihn an, um ihn zu fragen, ob er mit ihr essen gehen würde. Mia erhob sich und ging ins Bad. Das helle Licht verlieh ihrem Gesicht im Spiegel eine ungesunde Blässe. Die Haut unter ihren Augen wirkte durchscheinend bläulich. Hatte sie den Abend im Lindencafé eigentlich nett gefunden? Sie konnte sich nur undeutlich erinnern. Und war der Vorschlag mit dem heutigen Kinobesuch von ihm oder von ihr gekommen?
Tu nicht so unschuldig! Glaubst du, dieser ungelenke Zeitungsschreiber hätte sich getraut, dich ins Kino einzuladen? Natürlich war es dein Vorschlag, wessen sonst?
Mia sah im Spiegel, wie ihre Augen sich weit öffneten und dabei die Farbe wechselten. Von meeresgrün zu türkisblau. Auch ihr Mund stand ein wenig offen.
Du siehst aus wie ein Schaf.
Sie kniff die Augen zu, drehte sich um und rannte hinaus. Jetzt hatte sie schon am helllichten Tag Halluzinationen. Das Notizbuch schien in der Handtasche auf sie gewartet zu haben. Der schwarze Einband fühlte sich warm an, als sie es herausnahm und zu der Seite mit Stimmen blätterte. Hastig glitt der Bleistift über das Papier. Zum ersten Mal, seit die Stimme Kommentare in ihrem Kopf abgab, dachte Mia bewusst darüber nach, wie sie geklungen hatte. Es war eine weibliche Stimme gewesen, der Tonfall irgendwo zwischen amüsiert, schnippisch und ein bisschen anklagend. Sie las die Sätze während des Schreibens, dachte über den Inhalt nach und wie Doktor Grünthal das wohl finden
würde. Der Arzt hatte gesagt, jeder Mensch habe in seinem Innern Kontrollinstanzen, führe ab und zu Selbstgespräche, das sei nichts Verwunderliches. Vielleicht war das alles also ganz normal, und sie machte sich unnötig Gedanken?
Jetzt jedoch musste sie erst einmal die Sache mit Frank Schweizer wieder ins Lot bringen. Nicht dass der Typ sich noch einbildete, sie würde etwas von ihm wollen. Mia schob das Notizbuch wieder in die Handtasche. Es war schon nach eins, und sie hatte noch viel vor. Von zwei bis vier Fitnessstudio wie jeden Samstag. Sie trainierte hart, um in Form zu bleiben. Dann einkaufen. Danach würde sie sich mit dem Journalisten treffen und ihm sagen, dass sie kein Interesse hatte. Mia atmete tief durch und lächelte. Guter Plan.
»Wach auf.« Die heisere Stimme flüsterte direkt an ihrem Ohr, so dicht, dass sie den Atemstrom spüren konnte. »Komm.« Eine warme Hand tastete nach ihrem Oberarm, streichelte erst und packte dann zu. »Es nützt dir nichts, wenn du dich schlafend stellst.« Ein sauer-alkoholischer Lufthauch fächelte über Hals und Ohrmuschel. Dazu mischte sich beißender Geruch von Männerschweiß. Der Druck auf den Oberarm wurde stärker. »Ich möchte nicht, dass die anderen wach werden. Also los jetzt.« Die Hand zog an ihrem Ellenbogen. »Komm aus deinem Bett.« Grobe Finger tasteten sich vom Arm auf den Rücken, schoben und drückten. »Du brauchst keine Schuhe. Ich trage dich.« Ihr Oberkörper wurde angehoben, die Bettdecke rutschte beiseite. Eisige Nachtluft berührte die nackten Beine. Die schwieligen Hände brannten auf ihrem Nachthemd, kratzten über ihre Schultern, dann wurde sie hochgehoben. Über ihr knarrten Bettfedern, ein Geräusch, als drehe sich jemand um, aber gleich darauf herrschte wieder die gleiche atemlose Stille wie vorher. Die Stimme war jetzt an ihrer Schläfe, schien geradewegs in ihrem Kopf
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