Sensenmann
sah sich flüchtig im Eingangsbereich um und lauschte auf Geräusche, die darauf hindeuteten, dass derjenige, der eben die Tür geöffnet hatte, nun auf einen Besucher wartete. Als alles still blieb, machte er sich auf den Weg nach oben. Zur Sicherheit trug er das, was er seine »Berufsbekleidung« nannte: eine blaue Baumwollkluft, die wie ein Arbeitsanzug aussah, dazu die dunkle Baseballkappe. Zwei große Pakete mit Hermes -Etiketten
vervollständigten die Maskerade. Sie waren leer, und er konnte sie so hoch halten, dass sie sein Gesicht verdeckten.
Niemand achtete auf einen Postboten. Er war ein Dienstleister. Die große Umhängetasche mit dem Logo des Paketdienstes unterstützte seine Verkleidung.
Im zweiten Stock roch es nach Schmorbraten und gedünsteten Zwiebeln. Bruchstücke eines Violinkonzertes schwebten durch das Treppenhaus. Matthias zwinkerte die Schweißperlen beiseite, die ihm über die Stirn rannen. Die Luft schien von Etage zu Etage stickiger zu werden. Er hatte recht gehabt. Rainer Grünkern wohnte ganz oben. Blitzschnell ließ er den Blick über die beiden benachbarten Eingänge gleiten. Keine Türspione. Zu DDR-Zeiten hatte man das nicht für nötig befunden. Es gab auch so genug Aufpasser. Nach der Wende hatte sich manch ein Mieter nachträglich einen einbauen lassen, aber diese hier nicht. Matthias stellte die Pakete ab und öffnete seine Umhängetasche. Die Wohnung ganz oben, keine heimlichen Beobachter. Das Glück war ihm hold. Jetzt musste er nur noch das Türschloss knacken.
Er hatte geübt. Mit nagelneuen Zylinderschlössern aus dem Baumarkt. Zum »Lockpicking«, wie es die Experten nannten, gab es sogar Anleitungsvideos im Internet. Das Werkzeugbesteck ähnelte dem eines Zahnarztes. Mittlerweile schaffte er es in knapp einer Minute. Er drückte und ruckelte an den beiden dünnen Metallstäbchen, bis es klickte und sich der Riegel drehen ließ.
Schnell schob Matthias die beiden Pakete in den Flur und schloss die Tür. Er war drin. Sein Puls raste. Ein kurzer Check zeigte, dass es zwei Minuten nach zehn war. Noch fast eine Stunde. Jetzt konnte er sich Zeit lassen.
Zuerst musste die Tür wieder verschlossen werden. An einer Hakenleiste neben der Gegensprechanlage hingen ein braunes Lederetui und mehrere einzelne Schlüssel. Rainer Grünkern hatte ein Schlüsselband um den Hals hängen gehabt, als er losmarschiert war. Matthias griff nach dem Etui. Gleich der erste
Schlüssel passte. Er drehte ihn zweimal um und steckte ihn dann in die rechte Hosentasche. Ein kleiner Puffer, falls sein Freund eher als errechnet zurückkehrte. Nicht dass er das erwartete, aber es schadete nicht, gewappnet zu sein.
Matthias stellte die Umhängetasche neben die Pakete auf den Kokosteppich und sah sich um. Rechts ging eine Tür ab, links waren es zwei. Wie ein Tänzer setzte er vorsichtig einen Fuß vor den anderen, bis er in den ersten Raum links schauen konnte. Die Küche. Ein typischer schlauchförmiger Raum mit Einbauschränken links und rechts, der in vielen DDR-Plattenbaublocks gleich aussah. Es gab keinen Platz zum Sitzen. Nur weißes Holz und Chromgriffe; die Ceranfläche des Herdes spiegelte das hereinfallende Sonnenlicht. Die Arbeitsflächen waren leer, überall ungewöhnliche Sauberkeit. Das Einzige, was herumlag, war der Karton eines Fertiggerichtes. Das war nicht die klassische Küche eines alten Mannes, aber es hatte auch nicht den Anschein, dass eine Frau mit Rainer Grünkern hier lebte.
Die zweite Tür links war geschlossen. Matthias streifte sich Latexhandschuhe über, ehe er die Klinke herunterdrückte. Hier verbarg sich das Bad. Auch hier erwartete ihn klinische Reinheit. Weiße Badewanne, weißes Waschbecken, weißer Toilettendeckel, weiße Fließen, weiße Handtücher. Das Weiß war so hell, dass es in den Augen schmerzte. Jetzt war sich Matthias sicher: Rainer Grünkern lebte allein. Frauen hinterließen vor allem in Badezimmern nicht zu übersehende Spuren: Parfümflaschen, Haarbürsten, Schmuck, irgendwelchen Schnickschnack. Hier fand sich nichts davon. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, erhaschte einen Blick auf sein verwirbeltes Bild im Spiegel und ging wieder hinaus. Küche und Bad konnte er vergessen. Außer dass die Person, die hier lebte, ein Reinlichkeitsfanatiker war, sagten sie nichts über den Charakter des Bewohners aus. Im Hinausgehen zog Matthias schnüffelnd die Luft ein. Ein unmerklicher Duft nach Lavendel und Koriander, darunter
etwas Eichenmoos gemischt mit
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