Sensenmann
nicht lesen. Matthias trat noch dichter an das Regal, bis seine Nasenspitze die spiegelnden Oberflächen fast berührte.
»Kleine Wilde«. »Freche Gören«. »Schulmädchenreport«. »Feucht und feurig.« »Klein, aber oho.«
Es reichte. Er wandte den Blick ab. An seiner Schläfe hatte eine Ader begonnen, zu pulsieren. Matthias fröstelte es trotz der stickigen Wärme. Mittlerweile hatte die Eiseskälte seinen ganzen Körper erfasst. Der Vorhang fiel und verdeckte die unsägliche Parade von Filmen.
Einen Schritt vor dem Schreibtisch blieb Matthias stehen. An beiden Monitoren leuchtete ein orangefarbenes Lämpchen. Das bedeutete, sie waren nicht ausgeschaltet, sondern liefen im Standby-Modus. Auch das Flackern der LED-Lampen an den Kästchen deutete darauf hin, dass hier irgendetwas im Gange war. Die Computer waren an. Würde die Technik aufzeichnen, dass jemand in Grünkerns Abwesenheit hier herumgespielt hatte? Wen kümmerte das noch. Matthias streckte die Hand aus und legte sie ganz sachte auf die Maus.
Mit einem Knistern erwachte der Bildschirm zum Leben. Ein Fenster verkündete: »67 % von 1 Datei. 25 Minuten verbleibend«. Ohne den Blick vom Monitor zu wenden, zog Matthias den
Drehstuhl heraus, setzte sich und rollte dicht an den Schreibtisch heran. Der Chefsessel war weich gepolstert. Auch nach stundenlangem Sitzen würde man keine Beschwerden verspüren.
Die Digitaluhr neben ihm blinkte: 10:32 Uhr.
Matthias legte das Download-Fenster unten ab und öffnete den Internet Explorer. Jetzt würde sich zeigen, ob der gute Rainer Grünkern ein echter Crack war. Jeder Internetbrowser speicherte die besuchten Seiten, es sei denn, man änderte die Einstellungen und ließ den Verlauf bei jedem Herunterfahren löschen. Ein paar schnelle Tastenbewegungen zeigten, dass der Mann dies nicht für nötig gehalten hatte.
Ohne sich zu bewegen, fixierte Matthias die URLs. Er wusste, welche Portale der ehemalige Heimleiter besucht hatte, konnte es an den Bezeichnungen nach dem www. ablesen, und doch brauchte er Gewissheit. Der Zeigefinger senkte sich und drückte die rechte Maustaste nieder. Ein feines Klicken ertönte und die erste Seite baute sich auf.
Matthias Hase seufzte jämmerlich, und dann rollten seine Augen nach oben, sodass nur noch das Weiße zu sehen war.
Leises Knirschen eines Schlüssels im Schloss. Eine Tür klappte. Rascheln. Dann das Tappen bestrumpfter Füße über einen Kokosteppich. Murmeln.
Wie eine altersschwache Schlafpuppe öffnete Matthias die Augen. Vor ihm flimmerten Sterne über einen schwarzen Monitor. Die rechte Hand lag neben dem Mauspad. In seiner Kehle ätzte Säure, die Augen brannten, Nacken- und Rückenmuskulatur hatte sich zu harten Strängen zusammengekrampft. Eine weitere Tür klappte. Dann plätscherte Wasser. Leises Summen ertönte. Es klang wie ein Kinderlied, intoniert von einer Männerstimme. Matthias rieb sich mit den Fingern über die Stirn, schaute sich um. Bett mit schwarzer Satinwäsche, Regal mit Vorhang, Schreibtisch mit Computern.
Wie ein Blitz gleißte die Erinnerung an das, was er gesehen hatte, auf. Das Summen wurde lauter, näherte sich.
Matthias sprang von dem Drehstuhl hoch, seine Füße verhedderten sich in den Kabeln unter dem Schreibtisch, kamen frei, er stolperte in letzter Sekunde hinter die geöffnete Schlafzimmertür, wobei er im Vorbeitaumeln mit dem Ellenbogen das Licht ausschaltete. Er versuchte, das Röcheln in seiner Kehle zu unterdrücken. In seinen Eingeweiden rumorte es.
Rainer Grünkern kam hereinmarschiert. Das Kinderlied, das er summte, war »Hänschen Klein«. Er ging, ohne sich umzusehen, zum Schreibtisch und beugte sich nach vorn. Der Bildschirm erwachte zum Leben. Weiß strahlte das Licht in den dunklen Raum hinein. Grünkern beugte sich noch etwas weiter nach vorn. Matthias hielt die Luft an und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber sein Gehirn war leer wie eine Wüste nach dem Sandsturm.
Dann, als spüre er die Anwesenheit von etwas Fremden im Raum, drehte der Mann am Schreibtisch sich ganz langsam um, die Hand noch immer auf das Mousepad gestützt. Matthias’ Muskeln erzitterten kurz und verkrampften sich dann noch mehr.
»Ich grüße Sie.« Rainer Grünkern hatte nicht einmal die Stimme erhoben. Ein kurzes Runzeln der Stirn, als er sah, wer da hinter der Tür stand. Dann erschien ein Lächeln im Gesicht des Mannes, das Matthias’ Herz ins Trudeln brachte. »Wir haben uns doch beim Walken gesehen,
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