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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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bei uns. Sie ist schon eine Weile krank, vielleicht noch im Krankenhaus, vielleicht wieder zu Hause. Sie wohnt in der Skandinavischen, entweder Sie nehmen den Bus, Sie können aber auch laufen. Links ab, vor der Straße zum Tierpark. Skandinavische, in der vier oder in der sechs. Erste Etage. Grüße von uns. Die beiden Lampenverkäuferinnen vor der Ladentür. Nachttischlampen im Schaufenster, immer schön zu Paaren aufgestellt, Mann und Frau, ein tröstlich ausreichendes Angebot. Eli quert die Allee.
    Der Rentner im Erdgeschoss Skandinavische vier weiß, dass Frau Zweig im Krankenhaus liegt, nicht noch, sondern wieder.
    Er rückt das Kissen im Fenster zurecht. Bisschen Frischluft kann nicht schaden.
    Was wollen Sie denn von ihr?
    Ich kenne ihren Sohn.
    Der Sohn, ach der. Student der. Er hat sich lange nicht blicken lassen. Noch bis vor kurzem ist bei der Frau ein Mann aus- und eingegangen, ein Grieche, aber der ist wahrscheinlich wieder fort. Kriegerwitwen gibt’s immer noch reichlich. Aber ob sie was taugen. Der Sohn ist mal als Sportler in der Zeitung gewesen. Er ist Erster geworden. Er hat im Wettrennen einen großen Pokal geholt.
    Der Rentner hebt sich schon aus dem Kissen, um das Bild zu suchen, die alte Zeitung unter den Papieren im Küchenregal.
    Doch Eli will jetzt vielmehr wissen, wo es in der Nähe ein Krankenhaus gibt, ein zuständiges, hier im Bezirk.
    Da gibt’s zwei oder drei, Friedrichshain und Herzberge, das andere fällt mir jetzt nicht ein.
    Eli bedankt sich. Machen Sie mal das Fenster wieder zu,sonst holen Sie sich bei dem Wetter auch noch was weg. Hongkonggrippe macht jetzt grade die Runde.
     
    Eli kauft Milch und Zwieback, weil das sinnvoll ist. Sie fährt mit der Straßenbahn bis Haltestelle Krankenhaus. Alle steigen hier aus. Denn gleich beginnt die Besuchszeit. Genau um sechzehn Uhr öffnet sich neben dem Portal eine Seitentür. Die Leute drängen, weil die Tür so schmal ist. Weil jetzt die Zeit läuft. Vor dem Fahrstuhl muss man warten. Eine Stunde Besuchszeit. Eli wartet draußen und drinnen. Sie wartet, bis sich nichts mehr bewegt.
     
    Eli wartet. Es ist, als hätte sie ein Schluchzen gehört. Ein Echo. Schmerzen hinter einer Wand, aber hier gibt es keine Wand, nur die freie Halle mit dem Fahrstuhl, die breite Treppe, die in offenem Schwung nach oben führt, in einer Nische der Patientenkiosk, in der anderen Nische hinter einem Fenster eine Stimme, die Auskunft gibt. Die Sprechanlage klirrt.
    Ich möchte Frau Zweig besuchen. Ein Schalter knackt.
    Zweig, Martha?
    Ja, sagt Eli.
    Verwandt?
    Ja, sagt Eli.
    Zweiter Stock, Station vier, Zimmer 44.
    Danke.
    Wieder das Echo. Die eigne Stimme. Danke.
    Am Patientenkiosk kann Eli die leere Milchflasche abgeben. Sie kauft ein lachsrotes Alpenveilchen, Cyclamen persicum, könnte Sorte Prinz Heinrich sein, dazu als Besuchsangebinde den
Eulenspiegel
von dieser Woche. Etwas Spaß kann beim Gesundwerden helfen. Eli lauscht. Schluchzen, Wimmern, Schmerzenslaute? Woher bloß? Vielleicht gibt es irgendwo ein Versteck. Sie steigt die breiten Krankenhausstufen hinauf biszur Caritasfigur, wo sich die Treppe erst einmal trennt, um in zwei Bögen in die höhere Etage zu führen. Zu den Stationen römisch eins bis vier.
    Hinter einer Zwischentür ist Eli wahrscheinlich in einem Seitenflügel auf eine Hintertreppe geraten, Stufe für Stufe im Abseits. Wo bin ich? Im Felsengebirge. Allein in den sächsischen Schrammsteinen. Ohne Anton, ohne Seil und Sicherung. Auf morschen Leitersprossen durch das Nadelöhr. Einen Rückweg gibt es nicht. Hinterrücks fällt die Wand senkrecht ins Nichts. Schwindelfrei müsste man sein oder gleich ein Flügelwesen. Möglichst ein Engel.
    Station römisch vier, Innere Frauen.
    Zimmer 44 ist ein Einzelzimmer.
    Es ist die Sterbekammer.
    Im Gitterbett flach auf einem Kissen liegt ein zitronenfeines Gesicht, die Stirn, der Kopf kahl und gelb, unter dem Kinn bauscht ein Häufchen Mull.
    Junge, haucht der eingefallene Mund, und wieder kommst du ohne Mütze. Im Winter ohne Mütze. Versprich, dass du gleich deine Mütze aufsetzt. Gleich musst du mir das versprechen. Im Winter. Junge, Jungchen, immer bist du ohne Mütze.
    Der Mull unter dem Kinn zittert wie ein geschlüpftes Kücken, es piepst sogar. Wie lebendig.
    Eli berührt die gelbe Hand, die auf der karierten Wolldecke liegt. Ja, ich verspreche es.
    Du bist mein guter Junge.
    So viel Stimmen hinter der Wand. Irdisches Klagen. Bitten und Betteln. So viel eingemauerte Schmerzen. Der

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