Sepia
Leipzigfahrer aus. Siegfried und Felix aus Zeitgründen, Ludwig, weil er abgehauen ist, also bleibt die Ehre praktisch am letzten Mann hängen. Eli fährt. Die Losung heißt: Nur die Besten fahren nach Leipzig.
Im
Capitol
läuft das Programm der Studenten. Schwarzweiß oder Sepia, also eigentlich Farbfilm, wo aber die Farben aus technischen oder künstlerischen Gründen oder weil es modern war, im Kopierwerk herausgefiltert worden waren. Kunstlicht. Kurze oder sehr lange Brennweite, unmerklich, damit das Auge rätseln muss, unter- oder überdreht. Kühn, bildmächtig: Cinemascope. Oder beobachtende Handkamera, Originalton, Originaldekorationen: Cinéma vérité. Filme, in denen die Menschen gut sind, auch wenn es ihnen ab und zu an Rohstoffen oder an Wasser oder an Liebe fehlt. Talsperren werden gebaut. Opfer werden gebracht. Ein Ringofen wird repariert, derweil das kostspielige Feuer brennt. Derweil die Arbeiter Blut und Wasser schwitzen. Es geht um Meter und Sekunden und manchmal um ein paar Gramm. Wissenschaftler geben Auskunft. Bildhauer zeigen, wie ihr Werk unter Freude und Qual aus dem Sandstein hervorbricht. Familien ziehen in eine neueWohnung. Blinde meistern das Leben. In Lateinamerika wird um die Freiheit gerungen.
In einem schwarzweißen Studentenfilm von der Filmhochschule Łódź sieht man das Meer, weit am Horizont einen Himmelsstreifen, in der Mitte des Bildes zwei Männer, die sich langsam aus der grauen Unschärfe aus dem Wasser heraus zum Ufer bewegen. Sie haben eine unförmige Kiste geschultert. Später erkennt man, es ist ein Kleiderschrank. Sie schleppen das sperrige Möbelstück am Ufer entlang, dann durch alltäglich belebte Straßen, fünfzehn Filmminuten, bis die Männer mit dem Schrank unverändert geduldig wieder am Ufer ankommen und zielstrebig mit ihrer Holzkiste im Meer verschwinden.
Applaus. Schweigen. Eli läuft auf Umwegen durch die Stadt zum Leipziger Hauptbahnhof. Wenn das Ludwig wüsste. Komödie? Tragödie? Kein Symbol, vielmehr das Gegenteil: eine Offenbarung. Wiege. Schrank. Sarg. Müde. Matt. Krank. Tot.
Die Amis drohen. Die Vietnamesen reparieren mit Elis Spende Brücken und den Dschungelpfad. Der Schrankfilm müsste in Leipzig das Goldene Täubchen bekommen. Aber Roman Polanski, der Absolvent aus Łódź, wurde bereits ausgezeichnet. Mit dem Golden Gate Award. In San Francisco.
McNamara hat heimlich Atomraketen in der Türkei und in Italien stationiert.
Nikita Chruschtschow versteckt SS-4-Mittelstreckenraketen im kubanischen Palmenwald.
Das ist die Kubakrise. Gefahr für den Frieden in der Welt. Jeden Augenblick kann es zu einem Atomschlag kommen. Zur Vergeltung. Angriff oder Verteidigung. Zum Artensterben. Homo sapiens, der sich aus der Gattung der Hominiden nach und nach auf die Hinterbeine hochgerackert hatte, verkrümelt sich wieder. Er macht sich irgendwie viel zu früh aus dem Staube. Die Sandstein-Apostel auf dem Dach der Hofkirche in Dresden, die das vormalige Inferno im Februar 1945 überstandenhatten, bleiben vielleicht wieder übrig. Doch diesmal ist keiner mehr da, der sich darüber wundert, weder Eli noch sonst wer.
Eli wundert sich, dass sie noch an das nächste Stipendium, an die Pflichtlektüre und die Examensarbeit denkt, dass sie immer noch ein Thema sucht. Sie hat in einer BBC-Sendung gehört, an der University of Westminster macht die Philosophiefakultät gar nichts mehr. Die Studenten trinken Tee und warten geduldig auf das Ende.
Der Film von den zwei Männern mit dem Schrank gehört zu den schwärzesten Filmen der Schwarzen Serie. Das sind Filme, vor allem aus Polen, aber auch aus Ungarn und der ČSSR, die das Kräfteverhältnis der Machtblöcke verschleiern, die mit ihrem schwarzen Weltbild, gewollt oder ungewollt, dem Gegner nützen. Kunst muss Partei ergreifen. Die Studenten der Hochschule wollen Position beziehen. Eli kauft eine schwarze Baskenmütze. Man trägt sie mit freier Stirn, man zieht sie über das rechte Ohr wie Che Guevara. Ein Illustriertenfoto von Che klebt an der Tür. Eli hat immer noch kein Thema für das Examen gefunden. Schubert empfiehlt Laokoon, die empfindliche Hüfte des Laokoon, ihren schriftlichen Abschluss im Fach Kunstgeschichte. Den Text kannst du doch mit Kunerts Segen ohne weiteres noch etwas ausbauen. Kunert war doch sehr zufrieden mit deinen sieben Seiten, oder nicht?
Am Mittwochnachmittag schwingt Eli auf dem Sportplatz die Oskars. Es geht jetzt um Zeit. Der ehrgeizige Spartenleiter steigert das Tempo. Die
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