Sepia
wirklich echte Schokolade. Iss mal selber, sagt Anton, ich gönne mir heute mein letztes Weihnachtsstäbchen. Er schüttelt den Kopf, weil er immer noch staunt. Heinrich, der Ganove, das glaubt man nicht. Handwerklich begabtwar er immer schon in Stall und Scheune und beim Fahrradschlauchreparieren. Wahrscheinlich könnte er auch mal einen Tausendmarkschein machen, so erfinderisch, wie der ist.
Guter Rauch füllt das Wohnküchengeviert. Eli nascht und liest und schnuppert. Harmonie am Tisch, obwohl im Radio wieder vom Wettrüsten die Rede ist. Anton zwinkert, als wolle er noch etwas Bedeutsames sagen zur Weltgeschichte.
Das soll die letzte Zigarette sein. Sagt er.
Anton hat sich verändert in den Wochen, seit Eli nicht mehr hier gewesen ist. Anton, ein Nichtraucher. Das heißt aus einem Rappen einen Schimmel machen. Eli staunt. Der alte Anton ist ein anderer Großvater geworden. Nicht mehr so maulfaul, so eigensinnig. Eli fragt sich, ob das im Alter die Hormone machen. Man kann mit ihm reden. Er will nicht mehr erziehen und alles besser wissen. Freiweg erzählt er von Dietrich Dubbert, dass er geheiratet hat, dass er in Rostock wohnt und ohne weiteres eine Stelle gefunden hat als Straßenbahnfahrer.
Die Welt bewegt sich, auch ohne Eli. Das ist gut, aber nicht grade zum Lachen. Anton schmunzelt. Jetzt endlich erkennt Eli, warum Anton so viel Humor hat und fast übertrieben viel von der heiteren Seite sieht. Er hat neue Zähne. Eine neue schlohweiße Brücke. Und das Vertiko ist nicht mehr da. Zerhackt, sagt Anton. Er hat die Kommode an die Stelle gerückt. Das Grammophon ist fort. Zerhackt und weggeschmissen. Die Platten, zerkratzt und grau, hat er auf dem Hof in Stücke zerbrochen, die Scherben in einem bestialisch stinkenden Feuer verbrannt. Er hat sich einen elektrischen Plattenspieler angeschafft. Kabel hängen durch den neobarocken Fensterflügel, führen an der Hauswand hinunter in den Kellerschacht zu einer Dose, wo der Stecker reinpasst. Er hört
Tannhäuser
ohne Kratzer und spart Zeit, die das Aufziehen gekostet hatte. Musik ist besser als das rausgeschmissene Geld, und Zeit ist Leben.
Eli schöpft Hoffnung, sie ist zuversichtlich, dass Anton sich eignen könnte als Absender ihrer Botschaften an Ludwig und als Deckadresse für Antwortschreiben. Alte sächsische Zuverlässigkeit, Bergsteigercourage paart sich mit moderner Neugier. Er sieht flott aus, besonders in seinem Zitronenhemd und wenn er freundlich die Zähne zeigt. Nur Rockmusik kann er immer noch nicht leiden. Für Elvis kein Ohr. Das ist schade. Anton hört Bruckner. Eli geht mit ihm ins Konzert. Bruckners Vierte, die Romantische. Es spielt die Dresdner Staatskapelle. Mit Heinz Bongartz am Pult. Im Programmheft wird darauf hingewiesen, dass wir hier in Dresden die Originalfassung hören. Es geht los. Das Hornsignal ruft den Tag aus. Daraus entwickelt sich das Leben.
Lieber Ludwig, jetzt habe ich schon, wie die Kamerastudenten mit ihrem Sucher, einen quadratischen Blick. Ich bin unterwegs, um zu sehen, ob der Ausschnitt was taugt. Manchmal mache ich einen Schwenk, oder ich hocke als Kamera in der Straßenbahn, fahre auf Schienen an den Häuserfronten entlang, wechsele das Tempo, verweile, drehe den Hals um 360 Grad. Da sehe ich wieder die nämliche alte Brücke, wo ich vor Zeiten schon einmal war. Standbilder. Oder Tempo, Rissschwenk, bis die Ansicht zerfetzt. Manchmal bin ich selbst im Bilde. Eingespiegelt. Zwischen den beiden Herkulessen in der Lindenallee. Ich sehe, wie ich sieben Bäume an einem Tag in die Pflanzlöcher setze, wie sie ihre zierlichen Äste strecken, jedes Bäumchen für sich, weil ich den Abstand auf hundert Jahre berechnet habe. Je länger die Blende, umso mehr Zeit ist vergangen. Aber das kann täuschen, im Holz meiner Linden steht die Zeit.
Es dauert noch, in hundert Jahren wird das Bild fertig sein, die Lindenallee. Krone in Krone. Ich mache inzwischen die Augen zu. Manchmal glubsche ich heimlich, dann sehe icheinige sehr viel spätere Sachen. Kindeskinder, die so aussehen wie Du.
Eli hat sich in Anton nicht getäuscht. Die neuen Zähne, das Zitronenhemd, die Musik, Bruckner vor allem, und was sonst noch walten mag, sein Entschluss, die Welt andersherum, vielleicht sogar von hinten zu sehen, Alices feige Flucht nunmehr als Mut zum Verrat anzuerkennen, das hatte Anton zu einem richtig guten alten Kumpanen gemacht. Zu einer wunderbaren Deckadresse. Die Luftmatratze trägt dazu bei, dass Eli nicht nur
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