Sepia
Signaldichte, die Länge, die Schwierigkeit der Information. Eli liest etwas stockend, aber fehlerfrei, was die Schnittstudentin in 100 Meter Entfernung signalisiert: Drei hündchengroße Elefanten aus poliertem Holz mit beweglichen Gelenken.
Der Spartenleiter flüstert in Elis Ohr. Eli setzt die Flaggen. Es ist nicht leicht, aber machbar: Ein Pilot, von einem Luftstützpunktin Lappland, der sich auf einem Rettungsflug befand, verirrte sich im Nebel.
Der Spartenleiter erlaubt keine Pausen. Sein Ziel: die Seesport-Meisterschaften in Rostock.
Wenn beide Flaggen gleichzeitig ausgestreckt im Halbkreis schwingen, bedeutet es: Text löschen. Bis in den späten Abend hinein flattern die Fahnen.
Text löschen. Das ganze Kapitel, eigentlich alles.
Bis in die Träume.
Ein patrouillierendes Schnellboot gräbt eine scharfe Furche durch den See, es schießt silberne Wasserperlen, zieht einen Nebelschleier.
Jenseits, im Schilf, hochbeinig, silbrig gefiedert, ein Kranich. Er breitet die Flügel aus. Der Vogel hebt, schlägt, senkt die Flügel. Jetzt erkennt man genau: Zeichen. Signale. Er streckt das Gefieder. Er schreibt ein E und ein L und ein I.
Ludwig hat einen Kranich gesandt, mit einem Flaggengruß.
Eli verharrt im Blattgeflecht des wilden Weins. So wachsam wie eine versteckte Kamera. Der Balkon am Stalin-Haus ist ein guter Platz. Aus diesem Winkel hat man das Jenseitsufer bestens im Blick. Es ist nicht mehr so wie am Anfang, wieder ist ein Jahr verflogen. Eli kann am Schneidetisch Filme einlegen, Filmstreifen schneiden und zusammenkleben, das hat sie in fakultativen Übungsseminaren gelernt, sie kann notfalls an der Kamera assistieren, kann Schärfen ziehen, Drehbücher einrichten und metrieren, Drehpläne aufstellen. Sie hat die Prüfung im Vielseitigkeitsreiten bestanden und kann einigermaßen Gitarre spielen. Sie hat beim Zeitschriftenvertrieb die dicke Broschüre
Iskustwo Kino
bestellt. Eli ist Meisterin im Seezeichenlesen, sie muss nicht mehr buchstabieren. Sie bindet die Flaggensignale zu Worten und Sätzen, zu sinnvollen Texten. Sie kennt sich im fremden Terrain, in den Parks, Bibliothekenund Studentenhäusern, ziemlich gut aus. Sie findet sich zurecht. Blind im Stalin-Haus.
Weinlaub flattert von der Fassade, auch von der Dachtraufe fallen rote Blätter auf den Balkon. Manchmal fliegt so ein gefingertes Blatt auf Elis Schulter. Manchmal winkt ein Kranich vom anderen Ufer. Das sind die zärtlichen Zeichen, Signale, die zum Pausenalltag gehören.
Ein Gastdozent von der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst zieht mit Kreide einen waagerechten Strich auf die grüne Schiebetafel. Von A wie Anfang bis E wie Ende. Das ist die Handlung in der Zeit. Der senkrechte Balken am Anfang meldet einen guten oder schlechten Verlauf, je nachdem, ob die Kreidekurve nach oben oder nach unten zielt. An der Tafel entstehen Wellenberge, Wellentäler. Manchmal auch treppenartige Gebilde. Zickzacklinien.
Hamlet. Richard III. Rotkäppchen. Nibelungen. Lied der Matrosen. Kahn der fröhlichen Leute.
Quer durch die Literatur- und Filmgeschichte. Er malt Homers
Odyssee
. Er markiert die Klippen, den Gesang der Sirenen. Anfechtungen. Gefahren. Launen der Natur. Er wischt mit dem Schwamm, manchmal mit dem Ärmel. Reine Tafel für
Faust
.
Emil und die Detektive
: die kleinen Unterschiede zwischen Erich Kästners Roman, dem Drehbuch von Billy Wilder und schließlich dem fertigen Film. Manchmal macht der Gast aus Leipzig eine Ratestunde. Er setzt die Kreide an, wirft flink eine liederliche Koordinate an die Tafel, quietscht weit unter der Null, wo sonst die Handlung beginnt, eine Parabel mit Schleife.
Das können Sie jetzt nicht wissen, sagt er. Er schreibt in Druckbuchstaben. Kafka, Franz.
Der Prozess
.
Eli hatte im Radio von einer Konferenz gehört, einer Kafka-Konferenz. Der in Prag gebürtige Dichter wäre jetzt achtziggeworden, doch er war jung, schon in den zwanziger Jahren, gestorben, an Tbc, hatte der Kommentator im Radio erklärt. Die Konferenz in Liblice sei ein Lichtblick für die Rezeption dieses bedeutenden modernen Dichters. Ein Hoffnungsschimmer für den Osten.
Der Gast aus Leipzig malt Kreideparabeln. Magische Zeichen. Er lässt die Waagerechte, wo sich sonst die Handlung entlangwindet, außer Acht.
Das Schloss. Amerika
. Meine Damen, meine Herren, das ist ein guter Tag.
Entfremdung von Marx bis Camus und Adorno. Eli buchstabiert in Gedanken. Flaggenzeichen an Ludwig. Ohne Entfremdung gibt es keine Kunst.
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