Sepia
Mulltupfer unter dem Kinn, der bedeckt ein Loch, groß wie an einem Nistkasten für unsere Vögel, die vorbereitete Stelle, wo die Seele aus dem Körper ins Freie flüchtet, wo sie dann fortfliegt, immer weiter irgendwie fort.
Martha Zweig ist an einem guten Tag gestorben. Der Gefährte, der Grieche, war noch kurz vor ihrem letzten Krankenhausaufenthalt ihr Mann geworden. Sie hatten geheiratet, sich zusammenschreiben lassen, so kann er für die Monate und sogar für den laufenden noch Rente abholen.
Er kümmert sich um die Formalitäten. Er bestellt eine Urne, die wie schwarzer Marmor aussieht. Er zieht nun für immer in die Wohnung in der ersten Etage, es geht ganz einfach, weil er dort schon als Mieter auf dem Wohnungsamt und auch polizeilich gemeldet ist. Er tauscht das alte Türschild, trägt Sachen zum An- und Verkauf, feuert die Winterkohle, lebt von den eingekellerten Kartoffeln. Eli hatte eine Annonce, eine Postkarte mit Vor- und Zunamen, Geburts- und Todesjahr und dem Datum der Urnenbeisetzung erhalten, als alles schon vorüber war. Die Beisetzung war schon eine Woche Vergangenheit.
Eli reist den üblichen Berlinring über Schönefeld zum Zentralfriedhof Friedrichsfelde. Sie setzt ein frisches Alpenveilchen auf das Urnengeviert neben die weiße Schleife mit Goldbuchstaben. Unserer Kollegin Martha als letzten Gruß – von der HO Industriewaren. Ein Kranz unverwüstlicher Lilien. Alles Zeichen, dass es den Tod eigentlich gar nicht oder wenigstens nur vorläufig gibt. Du bist mein guter Junge, die Stimme hat gesprochen, das Gesprochene muss ja irgendwo sein – später wird man es hören können, mit Sensoren, Verstärkern, besonderen Ohren, man wird die Stimme herausfiltern aus dem Hintergrundrauschen, man wird das Einstige, wenn man will, wenigstens vorläufig wiederfinden, denn alles ist vorläufig auf der Erde. Tod und Leben sind vorläufig.
Auf dem Rückweg läuft Eli an der Gedenkstätte von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vorbei. Der Platz ist noch ausstaffiert mit roten Blumen und Schleifen, lauter Gebinden von der Kranzniederlegung im Januar.
Eli strickt wieder einmal eine Wintermütze, wieder einmal wie in früheren Zeiten für einen, den sie retten muss. Diesmal nimmt sie schwarze Wolle. Aus Gründen der Trauer und der Mode. Eli steckt die fertige Mütze in die Kiste, in der sie den Jägermantel aufbewahrt. Gegen Motten und vielleicht auch gegen den Zahn der Zeit hilft Holz vom Juniperus chinensis. Eli hat kräftig duftende Knüppel in die Ärmel geschoben, in den Taschen stecken ein paar getrocknete Beeren, eigentlich Zapfen, Wacholderzapfen, Juniperusbeeren.
Damit sind die Sachen gesichert.
Auf bald. Auf irgendwann.
Eli verwahrt nun auch die Briefe in der gegen Motten gesicherten Kiste, wo Mantel und Mütze auf Ludwig warten.
Sie schreibt an die Eltern von Erika. Ich habe sehr lange nichts mehr von Erika gehört. Würden Sie mir ein paar Zeilen senden, damit ich weiß, wo und wie Erika aufgehoben ist in Rom?
Liebes Fräulein Rafaela, umgehend möchte ich, die Mutter von Erika, Ihren Brief beantworten. Mein Mann und ich können es bis heute noch nicht fassen, was uns widerfahren ist. Wir waren gleich sehr erschrocken, als wir von den Berufswünschen unserer Tochter erfuhren. Warum Schauspiel, wir sind alle nicht aus diesem Milieu, weder in meiner noch in meines Mannes Familie gibt es so etwas. Unsere Tochter hat die Prüfungen und Anmeldungen, alles, heimlich veranlasst. Alles ohne unsere Kenntnis. Sie hat nur gesagt: Ende August ziehe ich aus. Die Aufnahme zum Lehrerstudium in Greifswald hatte sie, wie wir hinterher erfahren haben, bereits zurückgeschickt. Alles Weitere wissen Sie besser als wir. Ich hätte mich gern einmal mit Ihnen unterhalten, denn Sie kennen wenigstens das Kind unserer Tochter, unseren Enkel. Wir nicht.Nur Fotos, und die können nichts ersetzen. Auch Briefe nicht. Aber die Briefe waren wenigstens noch ein Lebenszeichen. Ich konnte lesen, wie sie in Rom zurechtkommt. Mit den Menschen und dem Geld. Beruflich geht es Erika wohl recht gut. Sie hat in einem italienischen Film eine deutsche Urlauberin gespielt. Das Kind bleibt in der Zeit bei der Nonna, der Mutter von seinem Papa. Traurig für mich, wenn ich denke, dass ich die Mutter seiner Mama, also seine liebe Oma, bin. Das mit dem Film war vor einem Jahr. Seitdem wissen wir nichts mehr. Mein Mann hat eine Stellung im Betrieb, wo er keine Kontakte ins nichtsozialistische Ausland haben darf, nicht
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