September. Fata Morgana
Küchen- und Bücherarbeit Tariks Zwölfstundentage in seiner engen überfüllten Praxis an der Saadun-Straße sie staunten und waren müßig wie Touristen ich ging auf sie zu als sähe ich sie zum ersten Mal liebten sie sich noch erhofften sie sich noch etwas hatten sie noch Sex miteinander wollten sie noch etwas erreichen wollten sie wieder in Paris leben was redeten sie mit ihren wenigen in Bagdad verbliebenen Freunden
das heißt Iwan diese Kuppelhalle siehst du so russisch waren diese alten Perser weißt du eigentlich dass der Schah ein Kosake war
du und deine Witze rief meine Mutter
mach ein Foto Muna
dann waren wir schon wieder unterwegs überquerten den Tigris fuhren auf die Autobahn nach Süden nach Al-Hillah durch brütende Steinwüste einen Kanal entlang in der Ferne tanzten Staubwirbel wie Miniaturtornados Beduinen und ihre Kamele rasteten in Dattelhainen nah am algengrünen Wasser am Ufer balancierte ein Kind über einen liegenden Autoreifen
vom Westen her
über die flache Brücke die auf mächtigen Steinquadern ruhte hätten wir einmal kommen können als der Euphrat noch direkt an der Stadtmauer entlangfloss links hätte sich der gewaltige Turm erhoben das Weltwunder die siebenstufige Leiter zwischen Himmel und Erde und rechts hinter den Zinnen der Mauer und des Vorwerks der große Tempel aber der Eingang lag jetzt östlich und führte an einem schläfrigen Pförtner vorbei durch die auf die Hälfte verkleinerte Kopie des Ischtar-Tores mit seinen blauen Kacheln seinem Gänseblümchenbogen seinen elegant schreitenden weißen Drachen und goldenen Löwen
das Original haben die Deutschen weggeschleppt
nach Berlin ich weiß sagte Tarik sie können auch Nebukadnezar den III. haben und uns eine verkleinerte Kopie aus falschen Ziegeln schicken wo ist denn aber jetzt der gewaltige Turm auf dem sich unsere Sprachen verwirrten
von einem Schutthügel aus
sahen wir die im sumpfigen Grundwasser steckenden Überbleibsel der Fundamente jenen über zwei Jahrtausende alten nassen Fußabdruck des Turms Etemenanki eine riesige Fläche wie ein grünbraun vernarbtes gigantisches Brandzeichen oder als wäre der Turm in der Erde versunken und als seien nur noch einige der grasüberwucherten verschliffenen Zinnen sichtbar von denen aus als sie sich noch 90 Meter hoch erhoben der Blick grandios gewesen sein muss an Deiner Schulter Geliebter wollte ich über die vollständig neu errichtete blau und golden glänzende Stadt schauen es ist aber
seit zehn Jahren nicht mehr gegraben oder gebaut worden sagte der Wächter es gäbe auch kaum noch Besucher es kämen ja keine Touristen mehr ins Land seit dem Krieg
es erinnert mich an Ground Zero sagte meine Mutter wer brachte eigentlich den Turm zum Einsturz wer schleifte ihn ich dachte jäh an das Mädchen in meinem Alter das mein Vater erfunden hatte um mir jede Häme und Schadenfreude auszutreiben Xerxes sagte ich laut er zerbrach die Statue des Marduk aber Farida hörte meine Antwort gar nicht weil sie von dem kleinen schäbigen Mausoleum angezogen wurde das man hier für Alis Sohn Amran und sieben seiner in Kerbela getöteten Gefährten errichtet hatte auf den Ruinen des Tempels Esagila (so dass man diesen nicht mehr rekonstruieren konnte)
Knochen begraben Mauern
das ist einmal interessant meinte Tarik und wir verstimmten meine Mutter wohl etwas weil sie spürte dass wir beide auf der Suche nach Marduk uns von Amran nicht hätten aufhalten lassen (ich bete nicht mehr)
die Leere
in Babylon
scheint mir heute
jetzt wo ich mich unruhig im Bett von einer Seite auf die andere drehe mit der Aussicht in zwei Stunden vor der ganzen Klasse über die alte Stadt (das Zentrum der Welt) berichten zu müssen
nur darauf zurückzuführen zu sein dass Du nicht dabei warst Du hättest natürlich meiner Mutter zugestimmt und die Überreste von Amran Ibn Ali nicht stören wollen aber Du wärst vielleicht auf eine Art U-Bahn-Tunnel oder eine Sondierungs-Röhre verfallen in Deiner ausgleichenden und besonnenen Art
meine Eltern folgten mir
auf der Prozessionsstraße nach Norden hinter einem schmiedeeisernen Absperrzaun sah man das mit Bitumen verkrustete Pflaster der erste Asphalt der Welt als Unterlage für die Steinplatten der Königswege direkt aus der Unterwelt emporquellendes Pech der Totengöttin Ereschkigal verkrustetes Öl aus der Hölle vor Jahrtausenden schon
in der zu Teilen wiedererrichteten Südburg gerieten wir dann in stille schmale Gänge zwischen säuberlich
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