September. Fata Morgana
Stillleben in schweren Ölfarben gehaltener Suk vor bröckelndem Mauerwerk mit pastösen Früchten matt schimmernden Kupferwaren prallen Gewürzsäcken und altem Silber eine Moschee
sich verdichtende Bewegung auf den engen Plätzen der Altstadt Kinder und Jugendliche springen über herumliegende Mülltüten
die weißen Zelte eines UNHCR-Flüchtlingslagers
das Paar tritt den Rückzug an (peinlich berührt denkst Du beschämtvielleicht oder auch ängstlich der Taxifahrer ließ kaum ein gutes Haar an den irakischen Flüchtlingen) sie zögern jedoch wieder der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt bleibt stehen und die Frau greift nach seinem Oberarm nicht um ihn wegzuziehen sondern um ihn ihrer Anwesenheit zu versichern offensichtlich hat ihn das Auftauchen eines anderen Mannes gefesselt der wie er Mitte oder Ende Fünfzig sein könnte sichtlich jedoch ein Orientale ist mit ausgeprägter Stirnglatze und grauem Schnurrbart ein hagerer bedächtig und vornehm wirkender Mann der in der Nachmittagshitze einen grauen Anzug trägt und der alten ledernen Tasche nach die er in der Rechten hält ein Arzt sein könnte
ich habe ihn wiedergetroffen
sagst Du am Abend auf der linken (westlichen) Seite eines großen Doppelbettes
Luisa dreht überrascht den Kopf das Gestell ihrer Lesebrille hat dieselbe glänzende Schwärze wie ihr schulterlanges Haar das Dringliche ja beinahe Geständnishafte Deiner Bemerkung verwundert sie so dass Du rasch erklärst dass Du den Mann mit der Arzttasche meintest
als sie sich vor dem Abendessen für eine Stunde im Hotelzimmer ausruhte bist Du noch einmal hinausgegangen erst nur um ein paar Schritte zu machen weil Du Dich trotz Eures reichen Besichtigungsprogramms unausgelastet oder vielmehr unruhig fühltest dann folgtest Du einer abwärts fallenden Straße deren melodischer Schwung Dich an San Francisco erinnerte und Dich immer weiter nach unten lockte und so
gelangtest Du zum zweiten Mal während des kurzen Amman-Aufenthalts in die schütteren Parkanlagen vor dem römischen Theater Du überlegtest gerade ob Du noch einmal durch die Sitzreihen zum höchsten Umgang steigen solltest um die Aussicht auf die frühabendliche Stadt zu genießen
als Du den hageren gleichaltrigen Mann mit der hohen Stirn und dem Schnurrbart erkanntest (wiederzuerkennen glaubtest)
dieses Mal war er nicht allein sondern in Begleitung einer jungen Frau die ein blaues Kopftuch Jeans und eine weite langärmelige Bluse trug beide betrachteten eingehend und liebevoll ein schon recht abgenutztes Reittier für Kleinkinder das auf einem Podest stand es handelte sich um einen dicken roten Elefanten mit Sattel und noch während Du überlegtest wie Du den Mann ansprechen könntest (denn Du spürtestein geradezu heftiges Verlangen danach eine Neugierde an einer anderen unmittelbar physisch gegebenen Existenz die Dir üblicherweise völlig fremd ist)
sagte er auf Französisch dass
der Elefant das Lieblingstier seiner Tochter wäre sie hätte es Hannibal getauft als sie elf Jahre alt gewesen sei und es zum ersten Mal hier gesehen habe
und so
kamt ihr ins Gespräch (fragt Luisa)
wir standen zehn Minuten bei dem Reittier dann verließ uns die junge Frau und wir tranken einen Kaffee mit Kardamom an einem der Tische bei den Kiosken
was ihn veranlasst hat mir so viel zu erzählen (so vieles aber ohne Unschärfe oder Ausmalungen es waren nur die Schlagzeilen seines Dramas die ihn selbst fast nicht mehr zu berühren schienen) ist mir absolut rätselhaft
Du dachtest womöglich dass
dieser gleichaltrige Mann aus dem Westen geduldiger und interessierter wirkte als die meisten die Du in den letzten Wochen gesehen hattest
oder Du
wollest ihm einfach (knapp und ohne Larmoyanz) einen Einblick geben weil er Dich ärgerte mit seiner irgendwie beamtenhaften Ausstrahlung gewissenhaft würde er alles registrieren aber geschehen würde daraufhin nichts (dachtest Du) er hätte Franzose sein können oder Amerikaner ein Ingenieur oder Lehrer gewiss war er ein verheirateter Mann und hatte einen Sohn oder eine Tochter im Alter von Fatima
aber was hat er erzählt fragt Luisa sanft
sie lässt ihren Reiseführer auf die Decke sinken auf den aufgeschlagenen Seiten erblickt man erneut die rissigen armlosen 7000-jährigen Statuen aus Ain Ghazal blaugrau jetzt wie eine Keramik im diffusen Licht der Nachttischlampe
vor zwei Wochen kam er aus Bagdad hier an er ist ein irakischer Arzt seine Familie überlebte drei Kriege doch vergangenen Monat kamen seine Frau
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