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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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Nachrichtenbildschirm an der Gare de Lyon oder vor einem mit Ramsch verstopften Elektrogeschäft im 20. Arrondissement oder
    vom Oberarztzimmer einer vornehmlich für die Parteikader errichteten blitzmodernen Bagdader Klinik aus in das ich vielleicht gelangt wäre
    hätte mir nicht Alis Freund Khalid ein PARTEI-Mann und hervorragender Chirurg und Noch-immer-Philanthrop erklärt dass sich mein Desinteresse an der PARTEI schlingenartig um meinen Hals zu legen begänne so dass ich plötzlich meine wahre Begabung meine Berufung und mein Bedürfnis nach praktischer unmittelbarer Tätigkeit erkannte und
    unverzüglich
    die Klinik verließ um in eine Arztpraxis einzusteigen wobei mich Prof. Dr. Khalid Yussef freundlichst unterstützte und mich damit wohl voreiner Gefängniszelle bewahrte nicht aber vor der dreimaligen Frontverwendung als Arzt im längsten und zähesten Krieg des Jahrhunderts
    sieh noch einmal
    Basra
    in der Götterdämmerung seines Rufs als Venedig des Arabischen Golfs
    und sieh
    wie
    (die Bände einer klassischen Ausgabe neben Abu Nuwas und Rumi neben al-Mutanabbi und Abu Alla al-Maari in der Bibliothek meines Großvaters)
    Hafis
    (Farida erzählte dass sie als Kind Tee Datteln und Brot zu den Persern brachte die in Zelten vor der Stadt nächtigten auf ihrem langen Weg nach Nadschaf und Kerbela mit ihren Kindern und ihren Toten)
    stirbt
    mit einem Stirnband um den Kopf die leuchtend bestickte Eintrittskarte ins Paradies
    Mahdi gib mir Kraft – Für Dich Hussein – Jeder Tag ist Kerbela
    sie tranken den Wein des Todes wie Süchtige in den Minenfeldern
    junge Männer Schüler Lehrlinge
    Kinder mit Spielzeug näherten sich winkend und warfen lachend
    Handgranaten
    bis man auch auf sie schoss Großväter und ihre Enkel als hätten sich die Tore einer schrecklichen Fabrik einer düsteren Schule eines riesigen Gefängnisses geöffnet so dass sie sich jubelschreiend in die Stacheldrahtwälle warfen und sich türmten Menschen-
    Wellen
    denn der PRÄSIDENT
    hat nicht bedacht dass die Revolutionen ihre Kinder anzünden und hineinschicken können in eine Angriffswelle aus Feuer und Blut
    solange
    ihre Zeit währt die Verbrennung der Gegenwart für die blendende Illusion einer besseren Zukunft
    aber die Mullahs wissen es und sie haben erkannt dass ihnen nichts mehr nützt als das Rollen der Blutwalze
    Märtyrer auf Märtyrer
    vor unseren Schützengräben die wie Visierschlitze in die lehmgelbe Einöde gezogen waren durch welche die Erde Blut und Eingeweide trank ich assistierte den Feldchirurgen ich musste selbst schneiden flicken Drainagen legen im Schein von Öllampen ich sah mit zitternden Knien und mir selbst unbegreiflich ruhigen Händen das blasse immer nur scheinbar schläfrige Krötengesicht von Marcel Cassin vor mir als hätte er einen Video-Übertragungskanal vom Engel Gabriel erhalten direkt aus einem OP der Pitié Salpêtrière in mein Gehirn Chirurgisches Praktikum I, II , III (Tarik! Eine Aorta ist kein Wasserpfeifenschlauch! Aber wenigstens führt der Mann die Nadel wie Generationen von Teppichknüpfern vor ihm und steht still wie ein Dromedar und da hat er recht Messieurs denn Ruhe ist alles und eine Naht ist nichts weniger als eine Visitenkarte!) so steuerte er mich noch ich musste (in den Nächten zwischen schreienden jammernden Soldaten) an den Junggesellenspeisesaal einer weiteren ehrwürdigen Klinik zurückdenken in dem ich Cassin zuletzt gesehen hatte einmal vor mir am Tisch und einmal als Satyr der sich über eine maskierte Schwarze hermachte inmitten weiterer als Orgienteilnehmer verewigter Chef- und Oberärzte gemalt von hierzu aufgerufenen Studenten es gab da eine Tradition der obszönen
    Bilder
    der AYATOLLAH winkt grandios (seht den Ring an seinem kleinen Finger)
    der PRÄSIDENT mit Beduinenkopftuch und einem Kind auf dem Arm
    noch in den Lazaretten starrt er auf die ihm zujubelnden Wunden eines Tages klebte er auf dem Deckel eines Mülleimers im OP und öffnete das Maul für durchgeblutete Pflaster und Verbände (einen kleinen Finger eine halbe rechte Hand)
    schweige arbeite schweige wie die Soldaten die äußerlich nichts davongetragen hatten die im Schützengraben lehnten wie gefroren die es nicht mehr ausgehalten hatten Leichenberge vor sich aufzuhäufen und verrückt wurden
    ohne einen Laut
    bei einem der Toten (feindlichen Toten: als würden wir uns im Paradies noch abschlachten für den Triumph im nächsten Paradies) einem dreißigjährigen Mann aus Schiraz vielleicht (oder einer

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