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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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Griechen ins Arabische übertrugen die indischen Mathematiker uns ihre Zahlen liehen und wir den Persern die Tanzformen unserer Gedichte schworen meine Kollegen den hippokratischen Eid in seinem vollen antiken Wortlaut
    wenn jeder
    der Sultan ist in seinem Palast (Robotersklaven Papp-Elefanten elektromechanische Panther unermüdliche Haremsdamen made in Hongkong )
    will ich auf immer in Bagdad bleiben und so träume ich davon
    mit den Rufen der goldenen Vögel zu erwachen mit dem Plätschern der Springbrunnen der Kühlung durch sacht gewedelte Straußenfedern früh am Morgen
    als Araber
    aber ich muss wohl noch etwas anderes sein und es ist später Nachmittag und schon kommt der Abend und ich erwache ein zweites Mal aber
    immerhin in Bagdad im ganz und gar wirklichen Irak
    am Fluss ich erwache an der Seite meiner langsam und ruhig gehenden Frau mit der ich mich unterhielt ohne es recht zu bemerken bis sie diesen
    schockierenden Satz
    aussprach an den ich jetzt verzweifelt mich zu erinnern versuche obwohl sie mich damit aus allen Träumen Tagträumen Sorgen riss von denen sie nun wieder spricht als wäre nichts geschehen ich habe mich wohl verhört sie wirkt so freundlich und gelassen wie zuvor es geht auch wie stets um Sami der sich in den neu eröffneten Internetcafés herumtreibt und bei den Spielchen die sie dort mit den wirklichen und virtuellen Aufpassern machen womöglich nicht genügend Vorsicht walten lässt um Jasmin die uns grollt weil wir nicht zum vierzigsten Geburtstag ihres Ehemannes gekommen sind worüber wir uns allerdings klar verständigt hatten denn wenn wir schon ohnmächtig zusehen müssen wie unsere Tochter sich mit Wissenschaftlern umgibt die zu wichtige Positionen einnehmen um nicht in der Partei zu sein und mit jenen Militärs die wir auf der Hochzeit im Stammhaus unserer Familie ertragen mussten so können wir doch wenigstens
    Abstand nehmen
    solange uns wenigstens noch der blanke Raum bleibt um eine Art geometrischer Aussage zu machen
    wenn wir Muna nach London schicken gibt es keine Garantie dass sie sich nicht ähnlich (patriotisch) entwickelt wie Jasmin in Paris aber
    es sind andere Zeiten
    versichere ich Farida die sich im Augenblick ebenfalls nicht an den gerade von ihr ausgesprochenen schockierenden Satz zu erinnern scheint ich wollte nur ich hätte verstanden was sie vor diesem Satz gesagt hatte es muss es sollte doch wohl ein irrealer Bedingungssatz (wenn im Irak ein jeder ruhig und sicher und satt einschlafen kann) gewesen sein
    wir gehen zum Tigris-Ufer durch die Straßen und Gassen die wir seit fünfzig Jahren kennen
    trauriger morscher verfallener als jetzt waren sie nie fassen wir es alsHöflichkeit vor unseren eigenen alternden Körpern auf die dagegen doch noch mehr Vitalität und Erneuerungskraft bewahrt haben wir sind doch auch energisch geblieben wie diese Frau mit den alten Plastikkanistern in den Händen die uns entgegenkommt mit weit geöffneter Abaya unter der man einen schönen veilchenblauen langen Rock und eine leuchtende rosa Bluse sieht wir
    leben einfach weiter
    und gehen weiter
    am Fluss
    trinken wir einen Tee im Stehen vor einem winzigen Café mit abgestoßenen gekachelten Wänden die mit alten James-Dean-Plakaten vollgehängt sind so vieles ist wie eine im Glasrahmen verwelkte brüchig gewordene vergilbte Kopie der Vergangenheit wir können es uns gar nicht leisten jedes Mal an unseren historischen Spaziergang von 1967 zu denken
    als du mich nach Paris schicktest
    und die Fischrestaurants noch alle geöffnet hatten und Frank Sinatra sang in jenen Radio-Tagen die mir trotz des verlorenen Krieges so unerträglich schön vorkommen dass ich verstehen muss weshalb
    es ist nur dieser Ozean an Zukunft
    und die wahnsinnige Gewissheit ihn durchfahren zu können bis ans andere verheißungsvolle Ufer oder gar diese vor Glück aus den logischen Nähten platzende Illusion von dort schon einmal probehalber in die Gegenwart zurückgekehrt zu sein
    Farida mit neunzehn die meine Schulter drückt um mir die Kraft zu geben nach Paris vorauszufahren Qué será : sinnvolle Berufe fröhliche Kinder intellektueller Austausch eine schöne Wohnung Urlaubsreisen ins Ausland Bücher Freunde Diskussionen Theater- und Konzertbesuche
    wie konnten wir nur
    gar nicht so arg betrübt sein in diesen aufgepeitschten blutigen Zeiten die wir stattdessen durchleben mussten
    Farida mit vierundfünfzig
    sieht über die von der untergehenden Sonne in seltsam unwirkliche Farben getauchte Szenerie der

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