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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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begreifen
    cherchez la femme es ist wegen dieser blonden Amanda sagte mir die afghanische Beate in ihrem Lankwitzer Heim fröhlich ins Gesicht zwei drei Mal hatten wir auf ihrer ehemaligen Studentenwohnheim-Pritsche mehr schlecht als recht miteinander geschlafen (immer wieder hinaus- und hinabrutschend) und mochten uns trotzdem noch ich war dieser mutigen robusten rotlockigen Weltenbummlerin aus purer Angst davongelaufen den Kopf zu verlieren (Teile meines Großhirnareals glaubte ich schützen zu müssen für wen für was) ich wollte tatsächlich Amandas wegen wieder in die USA wie mir dann klar wurde gerade weil ich ja gar nicht mit ihr zusammen war sondern es nur ab und zu (minutenweise) auf Partys oder in den schummrigen alten Kinosälen in Kreuzberg oder im Wedding für möglich hielt dass die unwirklich hübsche Kalifornierin ein Interesse für mich hegen könnte
    Amanda küsste mich zum ersten Mal in dem Lankwitzer Haus im Halbdunkel unter dem afghanischen Wandteppich
    so spielerische ornamentale Verknüpfungen
    Arabesken die zu Schlingen werden zu Strängen ich kann es nicht akzeptieren ich will diese irrsinnigen unnötigen Zynismen des Schicksals nicht wahrhaben
    der Dichter über den Sabrina den alten Hafis kennenlernte (jenes mir entwendete Buch)
    verliert seine dreijährige Tochter und seinen fünfjährigen Sohn in der Wende des Jahres 1833
    ich höre Mahlers Vertonung die
    Kindertotenlieder
    Rückert schrieb mehr als vierhundert Gedichte nach dem Tod von Ernst und Luise ich habe nur Sabrinas Karton mit den beiden auf den Deckel geklebten Postkarten (jener Wein trinkende Greis in der Wüste und die ägyptische Sängerin) und die Idee die Vermutung vielmehr dass Gedichte sie trösteten
    komme
    um fünf Uhr morgens
    der Welt abhanden in dieser achtlos gekauften Joggingkluft die ich im Dunkeln angezogen habe um darin vor meinem Fenster in der Amsterdam Avenue zu sitzen wie ein Clown (wollte ich mich lächerlich machen?) ich hätte
    damals
    nicht Amanda begehren lieben ihr in die USA folgen sollen (es ist keine Reise dachte ich damals es ist eine Ankunft)
    sondern jener Lankwitzer Globetrotterin Beate nach Afghanistan willenlos oder wenigstens bereitwillig in einer dunklen Spirale des Vorausahnens Mahler komponierte das Lied das ich wieder und wieder höre sechs Jahre vor dem Tod seiner Tochter
     
    Du musst nicht die Nacht in dir verschränken,
    Musst sie ins ew’ge Licht versenken.
     
    man hört es: ein noch fernes Licht dessen Sog einen schon erfasst hat ein Licht das
    alles zu verschlingen droht
    was macht es zurückzusinken (früher: meine Kopfmenschen-Furcht vorm Reisen die Unfähigkeit ins Licht hinabzutauchen) nach
    Afghanistan
    ich reiste diese Nacht und kaum hatte ich die Augen geschlossen verwandelte sich die Globetrotterin in Amanda verwandelte sich Amanda in
    unsere Tochter
    wir sind so oft gemeinsam unterwegs gewesen dass es mir natürlich erscheint mit Sabrina durch das Afghanistan der siebziger Jahre zu fahren
    unmöglich
    widersinnig sich einen Teufel um alles (um all die armen Teufel dort) scherend oft denke ich
    ich habe ihr die
    ERDE
    aufgebürdet
    weil sie dieses schwierige und (meines Erachtens) trockene Studium am MIT anfing wie von Amanda und mir in diese toten Räume gezwungen
    Afghanistan scheint mir nichts anderes vorzustellen als eine immer nur kurzzeitig nachlassende grimmige Herrschaft des Raumes über den Menschen wir hätten dahin reisen können Sabrina wir können reisen der Raum der Touristen
    ist ohnehin fast nur
    Vergangenheit
    ich höre die Totenlieder (Erstickungsängste nachts) aber ich
    atme weiter ich fahre mit meiner toten Tochter ich schüttle den Kopf über ihr streng nach hinten gekämmtes und zu einem Zopf gebundenes Haar (es sei zu dünn um es offen zu tragen sagt sie) über den sperrigen blauen Rucksack dessen Gurte in ihre Schultern schneiden
    wir hätten ein Auto genommen einen Skoda oder einen alten japanischen Jeep aus Pakistan wir hätten Kamele nehmen sollen oder Pferde ich lese über die Pferde der Buskaschi-Reiter die schaumspritzenden Mäuler und Nüstern die bis aufs Blut gepeitschten Leiber fahlbraunes schweißglänzendes schwarzes granitgraues rußfarbenes Fell über den bebenden Muskeln die verzerrten staubverkrusteten wettergegerbten tausendjährigen Gesichter der turkmenischen Reiter unter Pelzkappen und roten Piratenkopftüchern zwischen gefletschten Zähnen die kurze gebogene Gerte
    sie köpfen ein Ziege und wer sie am weitesten (um einen Pfahl

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