Septemberblut
Halbmond aus Licht teilte die Zimmerdecke in hell und dunkel, Tag und Nacht. Das purpurrote Seidenfutter des Sargs warf tiefschwarze Falten.
Wie jeden Abend aufs Neue lernten meine Hände zu leben und liebkosten den feinen Stoff. Alle Vampire liebten Seide und ich kannte keinen, der seinen Sarg nicht damit ausstattete.
Mein Blick verfolgte den mattgrünen Stängel einer Lilie, die die Wand verzierte, während die besondere Gabe des Sehens zurückkehrte. Nach und nach erkannte ich die Pinselstriche des Malers, dann die Grundierung und die feinen Linien der Vorzeichnung, die für menschliche Augen unsichtbar waren.
Als mein Blick scharf und auch die letzte Taubheit verschwunden war, stand ich auf und kleidete mich eilig an. Curtis würde so kurz vor dem Clantreffen keine Säumnis dulden.
Tatsächlich erwartete mich der Meister bereits am Treppenaufgang.
In der Luft schwebte der köstliche Duft von jungem Blut. Er entströmte Curtis’ Körper. Der Meister hatte getrunken, viel sogar, und seine Porzellanhaut schimmerte rosig von all dem geborgten Leben.
Wie ein fernes Pochen konnte ich sein Herz schlagen hören, stark und gleichmäßig. Es mischte sich mit dem Takt dergroßen Standuhr neben dem alten Kassenhäuschen, auf die der Meister demonstrativ seinen Blick lenkte.
Curtis stand still wie eine Marmorskulptur. Er gab sich keine Mühe, menschlich zu wirken. »Jage so rasch wie möglich, Julius. Zwei Straßen westlich ist eine Gartenparty. Du wirst die Musik hören. Pass auf dich auf und kehre schnell zurück.«
Mein Blick ging zur Treppe, die in die obere Etage führte. Ich wusste, dass Amber dort oben war, ich konnte sie fühlen.
Curtis erriet meine Gedanken. Er vertrat mir den Weg.
»Nein, Julius. Deine Dienerin läuft dir nicht weg, du wirst sie noch früh genug sehen.«
Ich wollte etwas erwidern, doch dann schloss ich meinen Mund. Mein Meister hatte mir einen klaren Befehl erteilt. Ich schritt an der Treppe vorbei zur Tür.
Draußen schlug mir Straßenlärm entgegen. Menschen hetzten vorbei. Jeder hatte Feierabend und wollte so schnell wie möglich nach Hause. Ich fiel nicht weiter auf.
Nie zuvor hatten wir so nah an der Zuflucht jagen dürfen.
Der Himmel war im Westen noch immer hellblau. Es war verdammt früh. Alles roch nach Tag und Sonne und längst vergangenen Kindheitserinnerungen.
Ich hielt mich im Schutz der Häuser. Zum Glück waren die Schatten lang. Als ich eine kleine Straße überqueren musste, war ich für einen Augenblick dem Licht ausgesetzt, der schwache Schein brannte wie Feuer auf meiner Haut.
Während ich lief, wickelte ich den Verband von meiner Hand und warf ihn in einen Mülleimer. Mein Hinken war verschwunden, aber der dumpfe Schmerz im Oberschenkel würde mich noch eine Weile an Frederiks Überfall erinnern. Wenn alles lief wie geplant, sollte ich bald Gelegenheit zur Revanche haben, und diesmal würde ich wach sein und kampfbereit. Ich schwor mir, die Rache mit allen Sinnen auszukosten.Irgendwie musste es mir gelingen, Frederik habhaft zu werden, ohne dass Amber davon erfuhr.
Ein Luftballon rollte über die Straße, und das verheißungsvolle Lachen junger Menschen erklang. Ein selbst gemaltes Schild mit kindlicher Schrift baumelte an einer Laterne und wies den Weg zu Shellys sechzehntem Geburtstag. Ich folgte dem Hinweis wie Curtis vor mir und wie es wahrscheinlich der Rest des Clans im Laufe der nächsten Stunde tun würde.
Ein reich gedeckter Tisch erwartete uns. Bässe wummerten aus einem lampiongeschmückten Garten. Warmes Licht versah die Baumkronen mit einem goldenen Heiligenschein. Das Tor in den Hof stand einladend offen, doch ich ging nicht hinein.
Meine Augen waren bereits fündig geworden. Im Schatten eines Hauseingangs stand ein knutschendes Pärchen. Warum nicht?, überlegte ich übermütig und mein Magen knurrte bei der bloßen Idee an eine doppelte Mahlzeit.
Kurze Zeit später tauchte Brandon auf, streifte am Gartenzaun entlang und lockte ein junges Mädchen heraus. Manolo war auch nicht weit.
Die Lebensenergie der Teenager war genau richtig für das, was uns bevorstand. Für einen Kampf mit Gordons Clan mussten wir stark sein, und junges Blut barg mit Abstand die meiste Kraft.
Sobald ich mich sattgetrunken hatte, trat ich den Rückweg an.
Es war mittlerweile fast völlig dunkel. Ich beschleunigte meinen Schritt. Gleich würde ich Amber wiedersehen.
Die alten Lampen des Kinos warfen eine gelbliche Korona in die Nacht. Im spärlichen Licht des
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