Septemberblut
ohne mich genauso gut oder besser gelaufen wäre. Der große Globus meines Urgroßvaters, auf dem die Länder noch andere Grenzen besaßen und Kontinente aus weißen Flecken bestanden. Damals hatte ich davon geträumt, die Welt zu bereisen. Vielleicht irgendwann, dachte ich. Vielleicht …
»Würde dir mein Blut helfen?«
Ich riss die Augen auf. Die Traumbilder waren verschwunden.
»Ich habe dir etwas versprochen und ich frage nicht, Liebes«, antwortete ich.
»Gut.«Sie legte die Beine hoch und rückte zufrieden näher, küsste mein Kinn. Ich erwiderte ihren Kuss, doch die Schwäche nahm mir die Leidenschaft.
Mir wurde wieder schwindelig. Ich blinzelte, versuchte mich zu konzentrieren.
»Und wenn ich es dir schenke?«
Ich sah sie ungläubig an. »Dann nehme ich deine Gabe an, mit großer Freude. Aber du musst nicht.«
Sie biss die Zähne zusammen und sagte schließlich zögernd: »Es war mein Bruder, der dir das angetan hat. Wenn ich es ein kleines bisschen wiedergutmachen kann …«
»Nein, nicht aus Schuldgefühlen für deinen Bruder.«
»Ich will es so.«
Es war ihr ernst. Ihr Körper ließ daran keinen Zweifel. Ich konnte es spüren. »Du überraschst mich immer wieder.«
Der Hunger, den ich fast vergessen hatte, kehrte mit Macht zurück. Meine Augen waren mit einem Schlag hellbraun. Ich schluckte trocken, strich über ihre Brauen, Lippen und das Haar. Streifte ihre Brust, wie zufällig.
Amber zitterte und sah auf. »Mach schnell, sonst überlege ich es mir doch noch anders.«
Ich nickte, durstig, gierig. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
»Wo?«, fragte sie mit großen Augen.
Ich hielt ihr Haar zurück und ließ meine Nägel über die Haut ihrer Halsbeuge gleiten. »Hier.«
Zart und blau wie ein ferner Fluss zeichnete sich die Schlagader ab. Ich konnte kaum noch klar denken und schob alle Zweifel zur Seite.
»Vielleicht tut es weh, diesmal«, warnte ich.
Eigentlich war ich mir sicher, dass es das würde. Ich war zu schwach für irgendwelche Zaubertricks. Vielleicht konnte ich ihr zumindest einen Teil der Schmerzen nehmen, vielleicht auch nicht. Der Durst, dieser blutrünstige Dämon, wuschall meine Bedenken und Sorgen davon. Amber hatte etwas, das mir gehörte, sie hatte etwas, das ich brauchte. Mein Herz pochte wie wild, und Ambers Haut duftete köstlich nach ihrer Angst.
»Mach schon, Julius, ich will es!«, presste sie hervor und kniff die Augen zusammen.
Jetzt gab es kein Halten mehr! Ich strengte mich an, ihr den Schmerz zu nehmen, doch meine Kraft reichte nicht.
Auf einmal stöhnte Amber und krallte ihre Hände in meinen Rücken. Ihr Schluchzen ging in meinen lauten Schluckgeräuschen unter. Ich vergaß alles um mich herum. Amber wehrte sich wohl, doch ich nahm es nicht wirklich wahr. Als sie schließlich die Hände gegen meine Brust stemmte, ließ ich nicht ab, sondern wusste nur, dass es noch nicht genug war.
Doch dann begann die Energie ihr Werk. Meine Wunden wurden heiß, begannen zu heilen, und Amber hielt endlich wieder still. Ihre Tränen nässten meine Schulter und langsam, ganz langsam fand ich zurück in diese Welt.
Aus einer seltsamen Melodie wurde eine Stimme, Ambers Stimme. »Bitte hör auf, Julius! Es tut so weh, ich ertrage es nicht mehr!«
Wie oft hatte sie das schon gesagt? Wie oft?
Ich ließ ab und strich ihr mit der Hand beruhigend über die Haare. Was hatte ich getan? Was hatte ich nur getan! »Das wollte ich nicht.«
Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
Wie konnte etwas, das mir solche Wonne bereitete, ihr zugleich so weh tun? Fast mochte ich mit ihr weinen und drückte mich an sie wie ein verängstigtes Kind. »Verzeih mir, verzeih«, stammelte ich.
Amber saß starr neben mir und presste eine Hand auf den Hals.
Ichfürchtete, alles zerstört zu haben. »Bitte verlass mich jetzt nicht. Ich hätte es nicht tun dürfen, ich …«
Amber rückte von mir ab und zwang mich, sie anzusehen. »Du hast getan, was ich dir erlaubt habe«, sagte sie.
Was sollte ich machen? Wie konnte ich sie um Verzeihung bitten?
»Möchtest du das zweite Siegel?« Die Frage klang wie eine Bitte: Nimm mein Geschenk an, es ist doch alles, was ich geben kann!
»Was bedeutet das?«, fragte sie. Noch immer rannen Tränen über ihre Wangen.
Ich hatte neue Hoffnung. »Eine engere Verbindung, Gesundheit, ein längeres Leben … Es tut nicht mehr weh … dann.«
»Vielleicht«, sagte sie unsicher und wischte sich die Tränen ab.
Blut sickerte aus ihrer Wunde. Ich hätte es zu gerne
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