Septimus Heap 05 - Syren
auftauchte.
»Ja, hier bin ich«, sagte das Geschöpf und betrachtete Tante Zelda missmutig aus seinen großen braunen Augen. »War grade eingenickt. Oder fast.«
»Tut mir schrecklich leid, lieber Boggart«, sagte Tante Zelda. »Aber ich hätte gern, dass du Wolfsjunge zum Dammweg bringst.«
Der Boggart blies eine ärgerliche Schlammblase. »Is aber ’n weiter Weg dahin, Zelda.«
»Ich weiß. Und ein tückischer obendrein, selbst mit Karte.«
Der Boggart seufzte. Ein Schlammstrahl spritzte aus seinen Nasenlöchern auf Tante Zeldas Flickenkleid und hinterließ dort einen weiteren Schlammfleck. Der Boggart beäugte Wolfsjunge mürrisch. »Dann man los, bevor wir hier Wurzeln schlagen«, sagte er. »Mir nach.« Und er schwamm, die schlammige Wasseroberfläche durchschneidend, den Mott entlang.
Tante Zelda zog Wolfsjunge in eine Flickendeckenumarmung. Dann schob sie ihn ein Stück von sich weg, ohne ihn loszulassen, und musterte ihn nervös mit ihren blauen Hexenaugen. »Hast du meinen Brief?«, fragte sie, mit einem Mal ernst.
Wolfsjunge nickte.
»Du weißt, wann du ihn lesen musst? Erst dann und nicht früher?«
Wolfsjunge nickte abermals.
»Du musst mir vertrauen«, sagte Tante Zelda. »Du vertraust mir doch, oder?« Diesmal nickte Wolfsjunge verhaltener. Er sah Tante Zelda verwirrt an. Ihre Augen leuchteten verdächtig hell.
»Ich würde dich nicht schicken, wenn ich nicht glauben würde, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist. Das weißt du doch?«
Wolfsjunge nickte misstrauisch.
»Und ... ach, Wolfsjunge, du weißt doch, wie sehr du mir am Herzen liegst, nicht wahr?«
»Natürlich«, brummte Wolfsjunge, dem langsam unbehaglich zumute wurde. Tante Zelda sah ihn so merkwürdig an. Als könnte es das letzte Mal sein. Er wusste nicht recht, ob ihm das gefiel. Unvermittelt machte er sich von ihr los. »Wiedersehen, Tante Zelda«, sagte er und rannte dem Boggart nach, der bereits die neue Bohlenbrücke über den Mott erreicht hatte und ungeduldig auf ihn wartete.
Warm eingepackt in ihr gefüttertes Flickenkleid, an dem sie einen Großteil des Winters genäht hatte, blieb Tante Zelda neben dem Mott stehen und sah zu, wie sich Wolfsjunge auf den Weg in die Marschen machte. Er schlug einen, wie es schien, seltsam zickzackförmigen Kurs ein, aber Tante Zelda wusste, dass er dem schmalen Pfad folgte, der an den Windungen und Schleifen des Schlangengrabens entlangführte. Sie schützte ihre alten Augen mit der Hand vor dem Licht, das von dem weiten Himmel über den Marram-Marschen strahlte und das selbst an bewölkten Tagen unangenehm hell war. Sie beobachtete, wie Wolfsjunge dann und wann auf einen Warnruf des Boggarts hin stehen blieb, wie er ein- oder zweimal flink über den Graben hüpfte und seinen Weg am anderen Ufer fortsetzte. Sie sah ihm so lange nach, bis seine Gestalt in einer Nebelbank verschwand, die über dem Loch des Verderbens lag – eine bodenlose Schlammgrube, die sich kilometerweit in Richtung Port erstreckte. Es gab nur einen einzigen Weg durch die Grube – auf verborgenen Trittsteinen, und der Boggart kannte jeden Schritt.
Tante Zelda ging langsam wieder den Weg hinauf. Sie trat in die Hüterhütte, schloss sanft die Tür und lehnte sich müde dagegen. Es war ein anstrengender Morgen gewesen – zuerst Marcias überraschender Besuch und die schockierende Nachricht von Septimus’ Queste. Und dann, nachdem Marcia wieder fort war, die Sache mit Wolfsjunge. Sie hatte ihn nur sehr schweren Herzens fortgeschickt, um seine Aufgabe zu erfüllen, obwohl sie wusste, dass es sein musste.
Tante Zelda seufzte schwer und sah sich in ihrer geliebten Hütte um. Die ungewohnte Leere weckte seltsame Gefühle in ihr. Seit über einem Jahr wohnte Wolfsjunge jetzt hier, und sie hatte sich daran gewöhnt, dass bei ihr in der Hütte ein anderes Leben gelebt wurde. Und jetzt hatte sie ihn losgeschickt, um ... Tante Zelda schüttelte den Kopf. War sie denn verrückt geworden? Nein, antwortete sie sich streng. Sie war nicht verrückt geworden – es musste sein.
Sechs Monate zuvor hatte Tante Zelda erkannt, dass sie sich Wolfsjunge als ihren Lehrling vorstellen könnte – oder als Künftigen Hüter, wie er seit alters her genannt wurde. Es wurde Zeit, dass sie einen auswählte. Ihre Jahre als Hüterin neigten sich dem Ende zu, und sie musste damit beginnen, ihre Geheimnisse weiterzugeben. Doch ein Umstand bereitete ihr Kopfzerbrechen. In der langen Geschichte der Hüterhütte hatte es noch nie einen Mann als
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