Septimus Heap 06 - Darke
ein kalter, trostloser Ort und lag eingezwängt zwischen felsigen Hügeln, an deren Fuß der Geist der Vergeltung spukte, eines Dunkelschiffs, das dort einst seinen Liegeplatz hatte. Ein paar verkrüppelte Bäume klammerten sich noch kraftlos an die kargen Hänge, doch die meisten hatten den Kampf aufgegeben und waren ins Wasser gestürzt, wo sie vermoderten und eine ideale Brutstätte für die berüchtigte Bitterbachwasserschlange bildeten – eine scheußliche schwarze Otter mit giftigem Schleim – und deren ebenso reizenden Schmarotzer, den Langen Weißegel. Im Sommer bevölkerten Schwärme von Stechmücken die Ufer des Baches, und ihre Abwesenheit im Winter wurde mehr als wettgemacht durch die winzigen Springenden Holzkäfer, die an Land kamen, sobald das Wasser kalt wurde. Holzkäfer konnten fast zwei Meter hoch springen und schlugen ihre Zangenkiefer in jedes Fleisch, das sie fanden, und begannen zu kauen. Es gab nur eine Möglichkeit, sich ihrer zu entledigen: Man musste ihnen den Rumpf abreißen und warten, bis die Zangenkiefer abstarben. Manchmal kauten die Köpfe noch tagelang weiter, bis sie abfielen.
Verstreut zwischen den schroffen Felsen, mit denen die Hänge übersät waren, sah man eine paar Steinhütten, einst erbaut von Einsiedlern, Außenseitern und Sonderlingen, die von einem Haus am Wasser träumten, offensichtlich aber völlig den Verstand verloren hatten. Inzwischen standen die meisten Hütten leer, doch Septimus wusste, dass zumindest eine noch bewohnt war.
Wie nicht anders zu erwarten, kamen nur selten Besucher ins Bitterbachtal. Allerdings lag das nicht unbedingt an dem Geisterschiff, an der unfreundlichen Tierwelt oder an dem strengen Fäulnisgeruch, der in der Luft hing. Der eigentliche Grund war, dass der Zugang zum Tal durch den berüchtigten Bodenlosen Strudel versperrt wurde.
In der Burg kannte jedes Kind die Geschichte des Bodenlosen Strudels, der in grauer Vorzeit bei einem Zweikampf zwischen zwei Zauberern entstanden war. Wie es hieß, hatte jeder der beiden Zauberer das Wasser aufgewühlt und aufgepeitscht, um den anderen darin zu ertränken. Sie umkreisten einander immer schneller und schneller, bis irgendwann beide in die Tiefe gezogen wurden und nie wieder auftauchten. Jedermann wusste, dass der Strudel bis zum Mittelpunkt der Erde reichte, und manche glaubten sogar, er käme auf der anderen Seite wieder heraus.
Von der Burg aus wurden gelegentlich Tagesausflüge zum Bitterbach unternommen. Ein solcher Ausflug war ein beliebtes Geschenk zum dreizehnten Geburtstag. Nach einem Abstecher ins Bitterbachtal, wo man einen Blick auf die Vergeltung zu erhäschen hoffte, fuhren die Boote, voll besetzt mit aufgeregt kreischenden Jugendlichen, um den Strudel herum. Allerdings standen diese Boote unter dem Kommando erfahrener Skipper, die genau wussten, welcher Sicherheitsabstand zum Strudel einzuhalten war, und die rechtzeitig erkannten, wenn ein Boot in den Sog des Strudels zu geraten drohte. Nur die größten und schwersten Schiffe, wie die Vergeltung eines gewesen war, konnten dicht an ihm vorbeifahren.
Nicko wusste mit Gewissheit, dass die Annie nicht dazu zählte. Und dass er nicht zu den Skippern gehörte, die den erforderlichen Sicherheitsabstand kannten. Er konnte nur hoffen, dass er es rechtzeitig merken würde, wenn sie zu dicht an den Strudel gezogen wurden. Und entsprechend nervös war er, als die Felsnasen, welche die Einfahrt zum Bitterbach markierten, in Sicht kamen – aber nicht so nervös wie Septimus.
Septimus saß allein im Bug des Bootes, direkt hinter der vorderen Segelstange mit ihrem großen roten Segel, das sich im kalten Wind blähte. Nie zuvor in seinem Leben, nicht einmal bei den Kämpf-oder-stirb-Nachtübungen im Wald, hatte er solche Angst gehabt. Er blickte auf das kleine Stück Papier, auf dem in Marcellus Pyes gestochener Handschrift Fragen und Antworten aufgelistet waren, die er sich einzuprägen versuchte. Sie ließen ihn an die Merkblätter denken, die er bei der Jungarmee hatte auswendig lernen und dann vor jeder Übung mit denen anderen Jungen im Chor hatte herunterleiern müssen. Diese Erinnerung bestärkte ihn in dem Gefühl, dass er dem Untergang geweiht war, aber sie führte auch dazu, dass er in die Verhaltensweisen seiner Jungarmee-Zeit zurückfiel und sich ganz aufs Überleben konzentrierte und nichts anderes. Und so blickte er jetzt, hinter der Segelstange sitzend, stur auf das eisengraue Wasser und murmelte leise die Antworten vor sich
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