Septimus Heap 06 - Darke
Torhaus gegangen, denn sie hatte zuerst mit ihrem Vater sprechen wollen, bevor ihre Mutter mit seinem Morgenkakao herauskam. Sie wusste, dass ihr Vater sich trotz seiner rauen Schale freuen würde, sie zu sehen. »Dein Vater hat in Wahrheit ein weiches Herz«, hatte Simon vor ihrer Abfahrt zu ihr gesagt. »Nur mit deiner Mutter könnte es Schwierigkeiten geben.«
Doch aus Lucys Plan war nichts geworden. Der Anblick eines provisorischen, seitlich an das Torhaus angebauten Schuppens neben der Straße, die zur Brücke führte, hatte sie ganz durcheinandergebracht. An dem Schuppen prangte ein Schild mit der Aufschrift CAFE LA GRINGE, und aus seinem Innern drang der (leider) unvergessliche Duft des Eintopfs ihrer Mutter. Und dazu ertönten die ebenso unverwechselbaren Geräusche, die ihre Mutter beim Kochen produzierte – Topfdeckelgeklapper, leise Flüche und übellauniges Gepolter.
Lucy stand im Schatten und überlegte, was sie tun sollte. Schließlich veranlasste sie der widerliche Eintopfgeruch, einen Entschluss zu fassen. Sie wartete, bis ihre Mutter die Nase in einen der großen Töpfe steckte, dann marschierte sie hoch erhobenen Hauptes am CAFE LA GRINGE vorbei. Es klappte. Mrs. Glinge schaute nicht auf, denn sie fragte sich gerade, ob jemand bemerken würde, dass in der Nacht eine Maus in den Eintopf gefallen und ertrunken war.
Glinge, ein korpulenter Mann mit kurz geschorenem Haar und speckiger Lederjacke, saß im Torwächterhäuschen. Dort war er vor dem eisigen Wind und, was noch wichtiger war, vor den Geruchsschwaden des Eintopfs geschützt. Es war ein ruhiger Tag. Die Bewohner der Burg waren entweder auf dem Händlermarkt, der heute zu Ende ging und dieses Jahr länger gedauert hatte als sonst, oder mit den Festvorbereitungen für die Längste Nacht beschäftigt, in der sie Kerzen in die Fenster stellten. Und so hatte Gringe, nachdem er in aller Frühe von ein paar übernächtigten Nordhändlern Brückenzoll kassiert hatte, bisher nichts Besseres zu tun gehabt, als die wenigen Geldstücke zu polieren, die er eingenommen hatte – eine Aufgabe, die er von Mrs. Gringe übernommen hatte, seit sie, wie er häufig klagte, vom Eintopfkochen geradezu wie besessen war.
Als er Schritte hörte und aufsah, in der Hoffnung, ein Neuankömmling könnte die magere Ausbeute des Vormittags etwas aufbessern, erkannte er seine Tochter zuerst nicht. Die junge Frau mit den großen braunen Augen und dem nervösen Lächeln sah viel erwachsener aus, als er seine kleine Lucy in liebevoller Erinnerung hatte – in der sie immer jünger geworden war. Selbst als die junge Frau mit tränenerstickter Stimme »Dad!« zu ihm sagte, glotzte er sie verständnislos an, bis seinem noch trägen Verstand endlich ein Licht aufging. Da sprang er auf, schlang die Arme um sie, hob sie in die Höhe und rief: »Lucy! Lucy, Lucy!«
Eine Welle der Erleichterung überkam Lucy – jetzt wurde alles wieder gut.
Eine Stunde später, als sie mit ihren Eltern in der Stube über dem Torhaus saß (der Brückenjunge passte derweil auf die Brücke und der Eintopf auf sich selbst auf), hatte sie ihre Meinung korrigiert: Es konnte alles möglicherweise gut werden, wenn sie äußerst behutsam vorging und ihre Mutter nicht zu sehr aufregte.
Mrs. Gringe war in voller Fahrt und zählte gerade zum x-ten Mal Lucys zahlreiche Verfehlungen auf. »Mit diesem grässlichen jungen Heap durchbrennen, dich keinen Deut um mich und deinen Vater scheren, zwei Jahre lang nichts von dir hören lassen ...«
»Ich habe euch doch geschrieben«, protestierte Lucy. »Aber ihr habt nie geantwortet.«
»Glaubst du vielleicht, ich hatte Zeit zum Briefeschreiben?«, fragte Mrs. Gringe beleidigt.
»Aber Mom ...«
»Ich musste das Torhaus in Ordnung halten, Eintopf kochen. Und das alles ganz allein.« Mrs. Glinge sah bewusst ihre Tochter und ihren Mann an, der zu seinem Leidwesen nun offenbar in die Vorwürfe miteinbezogen wurde.
Da mischte er sich rasch ein. »Ich bitte dich, Schatz. Lucy ist jetzt erwachsen. Sie hat Besseres zu tun, als bei ihrer alten Mutter und ihrem alten Vater zu leben ...«
»Alt?«, rief seine Frau entrüstet.
»So habe ich das nicht gemeint...«
»Ist ja kein Wunder, dass ich alt aussehe. Bei den vielen Sorgen. Seit sie vierzehn ist, läuft sie diesem jungen Heap nach. Schleicht sich mit ihm davon, versuchte sogar, ihn zu heiraten, man fasst es nicht, und handelt uns einen Riesenärger mit den Gardisten ein. Gutmütig, wie wir sind, nehmen wir sie trotz
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