Septimus Heap 06 - Darke
zum ersten Mal wünschte er sich, sie hätte vor Jahren einen netten, einfachen Burschen aus der Burg kennengelernt.
»Lucy, Liebes«, sagte er sanft. »Vielleicht ist es gar nicht Donner. Es gibt hier in der Gegend viele schwarze Pferde. Und selbst wenn er es ist, muss das nichts Schlimmes zu bedeuten haben. Im Gegenteil, ihr habt Glück. Das Pferd hat sich losgerissen und ist quer durch die Ackerlande gelaufen, ohne dass es jemand gestohlen hat – ein wahres Wunder. Es hat den Weg in die Burg gefunden, und jetzt hat es dich gefunden.« Gringe hoffte inständig für Lucy, dass nichts passiert war. Er lächelte aufmunternd. »Hör zu, Liebes. Wir besorgen einen Sattel und alles, was ein Pferd sonst noch so braucht, dann kannst du nach Port zurückreiten. Das ist allemal besser als diese muffige alte Fähre.«
Lucy lächelte unsicher. Sie hoffte ebenfalls, dass nichts geschehen war. Sie führte Donner, obwohl er sich sträubte, nach hinten in den Stall des Torhauses. Dort gab sie ihm frisches Heu und Wasser und legte ihm eine warme Pferdedecke über. Als sie ging, wollte Donner ihr folgen. Sie schloss rasch die untere Hälfte der Stalltür. Daraufhin streckte Donner den Kopf durch die offene obere Hälfte und sah sie vorwurfsvoll an.
»Ach, Donner, sag mir, dass Simon nichts zugestoßen ist. Bitte«, flüsterte Lucy.
Aber Donner schwieg.
Ein paar Minuten später kam Mrs. Gringe herunter, um nach ihrem Eintopf zu sehen. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Lucy mit wehenden Bändern davonrannte und in dem Häusergewirr hinter der Burgmauer verschwand. Überzeugt, dass ihre Tochter wieder einmal durchbrannte, stapfte sie zum nächsten Kochtopf und rührte missmutig darin herum. Doch ihre Stimmung hellte sich auf, als sie feststellte, dass die Maus sich in der braunen Brühe restlos aufgelöst hatte.
Lucy brannte nicht durch. Sie stieg die Treppe an der Burgmauer hinauf und folgte dem Weg, der oben auf der Mauer entlangführte. Ihr Ziel war der Wachturm am Osttor, genauer gesagt, die dort befindliche Zentrale des Botenrattendienstes, der von Stanley, seinen vier Rattenkindern (die inzwischen ausgewachsen waren) und verschiedenen Freunden und Bewunderern betrieben wurde.
Während Lucy über die Mauer lief, überlegte sie hin und her, was für eine Nachricht sie Simon schicken sollte. Und als sie atemlos die kleine Tür im Wachturm am Osttor aufstieß und das Büro der Botenratten betrat, hatte sie sich für eine kurze und bündige (und somit auch billige) Mitteilung entschieden: Donner hier. Bei dir alles in Ordnung? Sende Rückantwort! Lu xxxxx.
Eine halbe Stunde später fragte sich Stanley, der gerade noch die Spätvormittagsfähre erwischt hatte, ob er sich geschmeichelt fühlen oder verärgert sein sollte, weil Lucy darauf bestanden hatte, dass er die Nachricht persönlich zustellte. Und nachdem er sich eine halbe Stunde lang in einem Fischkorb vor der Bordkatze versteckt hatte, gelangte er zu dem Ergebnis, dass er in höchstem Maße verärgert war. Er legte den weiten Weg nach Port zurück, nur um einen Wetterbericht zu überbringen. Außerdem war ihm gerade klar geworden, wer der Empfänger der Nachricht war – Simon Heap gehörte zur Zaubererfamilie Heap. Und in diesem einen Punkt war Stanley mit Mrs. Gringe einer Meinung: Mit den Zauberer-Heaps gab es immer nur Ärger.
* 6 *
6. Die Entscheidung
W ä hrend Gringe alles besorgte, »was ein Pferd so braucht«, befand sich Septimus in einer »Besprechung«, wie Marcia es nannte. Er saß in ihrem Wohnzimmer auf einem kleinen Hocker vor dem Kamin, auf den Knien sein blaues und goldenes, in Leder gebundenes Lehrlingstagebuch. Über der Seite, die aufgeschlagen war, stand »Schwarzkunstwoche«.
Marcia blickte der Schwarzkunstwoche seit geraumer Zeit mit banger Sorge entgegen. Obwohl sie wusste, dass die mächtigste Magie – derer sich Septimus im nächsten Abschnitt seiner Lehre bedienen sollte – eben den persönlichen Kontakt zu den Dunkelkräften erforderte, hatte sie Angst. Manche Außergewöhnliche Zauberer hatten mit der schwarzen Magie überhaupt keine Schwierigkeiten. Ja, es bereitete ihnen sogar Vergnügen, mit dem heiklen Gleichgewicht zwischen schwarzer und weißer Magie zu spielen, die beiden Kräfte aufeinander abzustimmen wie ein guter Mechaniker die Teile eines Motors und dadurch das letzte Quäntchen Macht aus ihrer Zauberkunst herauszuholen. Marcia hingegen zog es vor, möglichst wenig schwarze Magie zu verwenden, und
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