Serafinas später Sieg
nicht möglich. Thomas wußte sehr wohl, daß England und seine hochfliegenden Ziele noch in weiter Ferne lagen, daß er letztere vielleicht sogar niemals erreichen könnte. Er war Verpflichtungen eingegangen, und er war auch dadurch mit Serafina verbunden, daß sie sich beide an demselben Mann rächen wollten. Und außerdem lebte Edward Whitlock in England – und der Gedanke, dem Mann über den Weg zu laufen, der in mehr als einer Hinsicht beinahe sein Leben zerstört hätte, reizte ihn nicht im geringsten.
Thomas verließ seinen Platz am Fenster und stieg die Treppe zum Gästezimmer hinauf. Er war plötzlich todmüde.
Als er den ersten Treppenabsatz erreichte, hörte er ein Geräusch. Diesmal war es nicht das Greinen eines Kindes, sondern ein wildes Schluchzen. Ohne nachzudenken, riß er die Tür zu Serafinas Schlafzimmer auf und rief ihren Namen. Die einzige Antwort war ein gequältes Stöhnen, das sich zu peinvollen Schreien steigerte. Er zog den Bettvorhang auf. Das Licht seiner Kerze fiel auf Serafinas Gesicht. Sie hatte die Fäuste auf die Augen gepreßt, als könne sie damit die Bilder aussperren, die sie bedrängten, und wiederholte immer und immer wieder dieselben Worte, doch Thomas konnte sie nicht verstehen. Sie entstammten einer Sprache, die er noch nie zuvor gehört hatte. Er stellte die Kerzen auf den Nachttisch, zog Serafina die Fäuste von den Augen und öffnete sanft die verkrampften Finger. Und dann sagte er erneut ihren Namen.
Sie öffnete die Augen. Sie waren schwarz vor Angst und nahmen ihn offenbar nicht wahr. Ihre Haare waren wirr und verschwitzt, das Nachthemd klebte schweißnaß an ihrem Körper. Er zog sie hoch und sagte eindringlich: »Serafina! Ich bin's – Thomas!« – immer wieder, bis ihr Zittern nachließ und sie nicht mehr stoßweise und keuchend atmete. Sie klammerte sich an sein Wams und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Er wiegte sie hin und her wie ein Baby und streichelte beruhigend ihr Haar. Als sie sich schließlich entspannte, sagte er: »Es ist alles gut. Sie hatten einen schlimmen Traum. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie ihn mir erzählen.«
Sie schüttelte heftig den Kopf, doch dann flüsterte sie: »Es ist immer derselbe Traum. Ich sehe meinen Vater …« Sie brach ab und atmete zittrig ein. »Ein türkischer Soldat schlägt ihn. Er hat Angelos Gesicht. Ich flehe ihn an aufzuhören, aber ich kann nur die Lingua franca der Sklaven sprechen, und er versteht mich nicht. Er macht weiter – und er lacht!« Wieder brach sie ab, richtete sich auf und ließ Thomas los. »Aber heute nacht war etwas anders.« Ihre Augen wirkten wie Seen in der Nacht – tiefschwarz und unergründlich. »Diesmal schlug er nicht meinen Vater – er schlug Francesco!« Erst jetzt schien sie Thomas wirklich wahrzunehmen. »Ich mußte ihn weggeben, Thomas, ich hatte keine Wahl. Aber ich vermisse ihn schrecklich.«
»Ich weiß.« Zärtlich ließ er den Blick über ihr bleiches Gesicht wandern. »Ich weiß.«
Sie schlug die Augen nieder und sagte leise: »Geh nicht, Thomas, laß mich nicht allein.«
Wie hätte er nein sagen können? Er zog ihren Kopf zu sich heran und küßte sie auf die Stirn, ließ seine Lippen zu ihrem Mund und dann über ihre Kehle zu ihren Brüsten gleiten.
Es war das zweite Mal, daß sie ihn in ihr Bett holte, doch er hatte wieder das Gefühl, ein neues Land zu erforschen. Er wußte, daß er sie immer lieben würde – ob sie nun stritten oder miteinander schliefen, Liebesworte murmelten oder einander Beleidigungen entgegenschleuderten. Sie war ein Teil von ihm geworden, er würde nie mehr der Mensch sein, der er gewesen war, bevor sie in sein Leben trat.
Serafina schlief danach sofort ein, doch Thomas blieb noch lange wach, aber das lag nicht an ihrer körperlichen Nähe oder dem Duft ihrer Haut. Er wußte, daß der Waffenstillstand, den sie mit ihm geschlossen hatte, nicht von Dauer sein würde, daß sie sich im Moment im Auge des Sturms befanden, der jederzeit wieder losbrechen könnte. Sie hatten einander verziehen, die harten Worte, die sie beide gesagt hatten, vergessen. Doch eines Tages, dachte Thomas, während er zart über die weichen dunklen Haare strich, die wie eine Decke über seine Brust gebreitet waren – eines Tages wäre ein Verzeihen vielleicht nicht mehr möglich.
ZEHNTER TEIL
1596
EIN OPFER
DER WELLEN
Ein rissiges Schiff mag auf dem ruhigen Meer sicher sein, doch in einem Unwetter wird es ein Opfer der Wellen.
Reisebericht:
Fynes
Weitere Kostenlose Bücher