Serafinas später Sieg
damals auch schon der Regen das sprießende Getreide flach gedrückt und Stürme das Erdreich weggefegt? Oder steuerte die Welt, wie ein reisender Wahrsager auf einem Marktplatz prophezeit hatte, mit den letzten Jahren des ausgehenden Jahrhunderts auf ihr Ende zu?
Eines Nachts fand er sich plötzlich an dem Versammlungsort der Bettler, dem Place des Miracles. Dieser »Platz der Wunder« lag am Ende einer stinkenden Sackgasse, umstanden von baufälligen Häusern, die sich im Laufe der Zeit einander immer mehr zugeneigt hatten, so daß die Dächer von einigen Häusern sich fast berührten. Jemand packte Jules an seinem zerfetzten Ärmel und sagte aufgeregt: »Schau! Der König der Bettler!«, und Jules streckte sich, um ihn zu sehen. Der »König« war in mehrere Schichten von zerlumpten Gewändern gekleidet, die in ihren guten Zeiten reichen Männern gehört haben mußten: Sie waren aus Taft, Seide und Samt. Im Licht der Fackeln, die das Gefolge des »Königs« trug, wirkten die Kleider wieder prächtig, schimmerten in sattem Scharlachrot, Türkis und Smaragdgrün. Er sieht wirklich wie ein König aus, dachte Jules.
Die Stimme des Mannes war tief und wohlklingend, seine Gestik beredt und graziös. Zunächst sprach er in freundlichem Ton über die Brüderschaft, der alle auf diesem Platz angehörten, und dann – während er stetig lauter und aggressiver wurde – über die reichen Kaufleute mit ihren verwöhnten Ehefrauen, und die opulenten Feste, die sie in ihren prachtvollen Häusern feierten. Die Gier der Kaufleute führe zu einer Erhöhung der Preise für Lebensmittel, sagte er, wodurch die Armen gezwungen würden, zu betteln und zu stehlen, und trotzdem sorgten die Kaufleute dafür, daß selbst geringfügigste Diebstähle mit dem Tod durch den Strang geahndet würden. Im Licht der Fackeln leuchteten die Augen des »Königs« feuerrot. Als er geendet hatte, johlten und tobten die Zuhörer, stampften mit den Füßen und schüttelten zustimmend die Fäuste, für kurze Zeit vergaß Jules sogar seine Tochter.
Am folgenden Tag gab es Aufruhr in den Straßen. Auf dem Marktplatz wurden Verkaufsstände umgekippt, die Ställe eines Kaufmanns angezündet. Die Stadtverwaltung schrieb die Ausschreitungen der glühenden Hitze zu. Jules verbrachte den Tag zu Hause mit Isabelle auf dem Schoß und bekam von alledem nichts mit. In der folgenden Nacht hatte er ein merkwürdiges Erlebnis. Wie magisch angezogen strebte er dem Place des Miracles zu und hoffte inständig, den »König« mit den wilden roten Augen wiederzusehen. Doch er war nicht da. Nur eine Horde Bettler, die sich auf dem Kopfsteinpflaster niedergelassen hatten, um zu schlafen. Auch Jules war müde. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah er den Geist seiner toten Frau! Er erkannte Marianne sofort an den langen dunklen Haaren und der zarten Haut, die er so sehr geliebt hatte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und als sie an ihm vorbeikam – nein, schwebte –, ließ sie es Münzen und Schmuckstücke regnen. Er fing eines der Geldstücke auf – einen Goldflorin. Als er versuchte, Marianne zu berühren, verschmolz sie mit der Dunkelheit und war verschwunden. Der Goldflorin ernährte Isabelle und ihn einen ganzen Monat.
ZWÖLFTER TEIL
1596
EINBRUCH
DER DUNKELHEIT
Diejenigen, die die Erlaubnis haben, in den Städten Waffen zu tragen, dürfen dies jedoch nur bis zum Einbruch der Dunkelheit.
Reisebericht:
Fynes Moryson
Altrosa-, terrakotta- und umbrafarben lag Florenz vor ihm, als Angelo durch den leichten Herbstregen auf die Stadt zuritt. Er betrachtete den pastellfarbenen Regenbogen in der Ferne als ein gutes Omen.
Im Palazzo Nadi wurde er zwar nicht als Schwiegersohn empfangen, aber immerhin wie ein Freund der Familie. Am Abend speisten er und Jehan mit den Nadis in einem eleganten Raum mit kostbaren Wandteppichen und schweren Vorhängen. Ein Lautenspieler sorgte für die musikalische Untermalung. Die bunten Bänder am Hals des Instruments leuchteten im Kerzenschein. Obwohl es nicht kalt war, brannte ein wohlriechendes Feuer im Kamin.
Lorenzo sprach über Stoffe und Geld, Giulia über Feste. Nencia errötete tief, sobald Angelo das Wort an sie richtete. Fiametta war einsilbig, redete nur, wenn sie etwas gefragt wurde. Angelo musterte ihr verdrießliches Gesicht. Später würde er diese zusammengepreßten Lippen zu einem Kuß öffnen. Er mußte erreichen, daß Fiametta ihn begehrte, von ihm abhängig würde.
Signor Nadi
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