Seraphim
Maurern war niemand zu sehen.
Der Richtplatz selbst war voller Schaulustiger, und zusammen mit den Neuankömmlingen, die dem Zug gefolgt waren, mussten es Hunderte sein, die neugierig auf das bevorstehende Spektakel warteten. Auf eigens zu diesem Zweck bereitgestellten Fuhrwerken hockten sie und verrenkten sich die Hälse, um so viel wie möglich zu sehen zu bekommen. Die Wohlhabenderen unter ihnen hatten Dienstpersonal dabei, die ihnen zu trinken und zu essen reichten, und es verursachte Katharina ein Gefühl von Ekel, mit anzusehen, wie sehr die Menschen es genossen, hier zu sein. Kinder rannten zwischen den Fuhrwerken herum, jagten sich gegenseitig, lachten und kreischten vor Vergnügen. Die Ärmeren, die sich keinen Diener und auch keinen Wein leisten konnten, drängten sich im Hintergrund um einen Brunnen mit gemauertem Rand. Die Winde, mit der der Eimer immer und immer wieder in die Tiefe gelassen wurde, damit man den Durst der Vielen stillen konnte, quietschte durchdringend.
Schließlich erblickte Katharina den Galgen, und ein Klagelaut entrang sich ihrer Kehle. Sie fühlte Gunthers Hand auf der ihren ruhen. »Seid zuversichtlich«, flüsterte er ihr zu.
Sie schluckte. Die Angst griff jetzt mit kalten Fingern nach ihrem Herz und presste es zusammen.
Die Stadtsoldaten hatten ein Rund abgesperrt, in das nun der Zug hineinmarschierte. Die Büttel, die den Zug begleitet hatten, vervollständigten den Kreis und schlossen ihn, sobald der Karren sich in seinem Inneren befand.
Dann verstummte das Tuscheln der aufgeregten Menge, und es wurde sehr still.
Katharina schwankte.
Der Stadtrichter ließ sich von einem der Schöffen eine Schriftrolle geben, trat mit gemessenem Schritt auf das Hochgericht zu und erklomm die paar niedrigen Stufen, die hinaufführten. Oben angekommen, drehte er sich um, rollte mit großer Geste das Schriftstück auseinander und verlas Urteil und Friedebann. Es war ein langer geschraubter Text, dessen Wortlaut nur schwer zu verstehen war. Katharina fehlte die Konzentration, um ihm zuzuhören.
»Lasst mich zu ihr!«
Ein kleiner Tumult entstand rechts hinter ihr, als Richard Sterner versuchte, durch den Kreis von Soldaten zu gelangen, aber er wurde aufgehalten. Katharina verspürte einen Anflug von Dankbarkeit, dass er da war. Sie hob den Kopf so weit, dass er ihr ins Gesicht schauen konnte.
Er wehrte sich gegen den Griff der Soldaten, dann gab er auf. Ohne Katharina aus den Augen zu lassen, trat er zurück neben einen Mann mit rabenschwarzem Haar und so leuchtend grünen Augen, dass Katharina ihre Farbe sogar über die Entfernung erkennen konnte. Sie sah, wie Sterner begann, auf den Mann einzureden.
Der Stadtrichter endete seine Rede mit dem Satz: »Darum verurteilt der Rat der Stadt Nürnberg Joachim Gunther zum Tode durch das Rad.«
Katharinas Lippen hatten angefangen zu kribbeln. »Rädern?«, hauchte sie.
Gunther starrte blicklos nach vorn auf den Rabenstein, gerade so, als ginge ihn das alles nichts an. Sebald band seine Fesseln auf, dann geleitete er Gunther von dem Wagen herab und übergab ihn an zwei Büttel, die ihn zu den Stufen führten.
Die Formation der Soldaten löste sich ein wenig auf, so dass Sterner nun zu Katharina gelangen konnte. Er kam an den Karren und packte nach ihren Fesseln, um daran zu zerren. »Bindet sie doch los, bei Gott!«, bat er Sebald.
Der sah sich unsicher um. In der Menge der anwesenden Ratsherren machte sich Pömer bemerkbar. »Tut, was er sagt«, befahl er. »Sie kann nicht weg.« Aber noch immer schien Sebald unschlüssig, bis auch Jörg Zeuner knapp nickend sein Einverständnis gab.
Also löste Sebald auch Katharinas Fesseln. Sie versuchte, einen Blick von ihm zu erhaschen, aber er vermied es sorgfältig, sie anzusehen. Als die Fesseln fielen und sie auf diese Weise ihres Haltes beraubt war, wurden ihre Knie schwach. Nur mit Mühe hielt sie sich an dem Holm aufrecht.
Der Karren schwankte plötzlich, und dann legte sich ein Arm um ihre Taille.
»Ruhig!«
Sterners Stimme.
Sterners Geruch.
Sie wollte sich losmachen. »Nicht«, murmelte sie. Ihre Zunge fühlte sich schwer und pelzig an. »Ihr ruiniert Euren Ruf!«
Aber er achtete nicht auf sie. Über ihren Kopf hinweg gab er dem Mann mit den grünen Augen einen Wink, es dauerte einen Moment, dann drängte sich dieser mit einer hölzernen Kelle in der Hand zwischen die Soldaten. Ungehindert kam er an den Karren und reichte Sterner die Kelle.
Richard setzte sie Katharina an den Mund.
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