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Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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sie, um dann bei Gunthers Schrei zusammenzuzucken.
    »Nein!«, murmelte sie ab dem dritten Schlag. »Nein! Nein! Nein!« Und einmal: »Bertram!«
    Richards Geist hatte sich geteilt. Eine Hälfte wehrte sich gegen das eigene Entsetzen, aber die andere war in der Lage, klar zu denken. Sie fragte sich, warum Zeuner nicht eingriff, um dafür zu sorgen, dass Katharina der Hinrichtung auch wirklich zusah. Unter den Ratsherren war Verwunderung entstanden, einige tuschelten, zwei redeten auf Zeuner ein, doch der hob die Hand und brachte sie damit zum Schweigen. Plötzlich hatte Richard den Eindruck, als warte Zeuner auf etwas, etwas, von dem nur er wusste.
    Zunächst jedoch wurde ein Ruf laut. »Haltet ein!«
    Es war der Stadtrichter, dessen schüttere Haare ihm in einer sorgfältig frisierten Welle über die Ohrläppchen hingen. Er stand auf derobersten Stufe zum Hochgericht. In der Menge wurde Gemurmel laut.
    »Der Rat der Stadt Nürnberg hat befohlen, dass dem Verurteilten nach sechs Schlägen mit dem Rad der Rest der Strafe erlassen wird!«, rief er den Menschen zu. »Aus seiner großen Barmherzigkeit heraus verfügt der Rat der Stadt Nürnberg, dass Joachim Gunther nunmehr mit dem Schwert vom Leben zum Tode befördert werden soll!«
    Die Erleichterung, die Richard bei diesen Worten durchströmte, ließ ihn erbittert auflachen. Was war das für eine Barmherzigkeit?, dachte er. Und was war er für ein Mensch, dass er darüber auch noch froh war? Seine Hände, die noch immer um Katharinas Kopf geschlungen waren, hatten wieder angefangen zu zittern.
    Arnulf hatte sich über den Brunnenrand gebeugt und warf einen Blick in die Tiefe.
    Als der Stadtrat die Begnadigung zum Schwert verkündete, befreite Katharina sich aus Richards Griff, der mit jedem Schlag des Rades immer schwächer geworden war. In dem kurzen Moment, in dem die Menge das neue Urteil verarbeiten musste, sah Katharina ihrem Beschützer ins Gesicht. Er war bleich, tiefe Linien hatten sich um seine Augen und seinen Mund eingegraben, und seine Augäpfel zuckten unruhig in ihren Höhlen.
    Ein unheilvolles flirrendes Leuchten drang aus seinen Pupillen und wurde immer stärker.
    »Richard!« Wie aus dem Boden gewachsen tauchte jener Mann neben Richard auf, mit dem er vor kurzem gesprochen hatte. Groß war er und kräftig, und aus seinen grünen Augen sprach eine Härte, wie Katharina sie noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. »Irgendwas ist mit dem Brunnen«, hörte sie ihn sagen, dann flammten auch seine Augen grell leuchtend auf.
    Katharinas Ohren begannen zu summen.
    In diesem Augenblick stemmte sich Joachim Gunther gegen seine Fesseln und warf den Kopf von rechts nach links. »Seht die Engel des Herrn!«, schrie er heiser und halb irre vor Schmerzen.
    In der Menge ertönten Schreie.
    »Ja!«, rief jemand. »Seht dort!« Gesichter wandten sich dem Himmel zu, Finger wurden ausgestreckt. Jemand begann irre zu lachen, und es dauerte einen Augenblick, bis Katharina begriff, dass es Joachim war.
    Plötzlich brach ihr Schweiß aus allen Poren.
    Gunthers Glieder zuckten wild, und wenn er nicht festgeschnallt gewesen wäre, hätte es ihn von dem Gestell gerissen. Seine Beine waren zertrümmert, Blut tränkte das weiße Leinen seiner Hose, und auch beide Unterarmknochen hatte Bertram ihm gebrochen. Dennoch schaffte er es, einen Finger auszustrecken und damit auf Katharina zu zeigen.
    »Dort ist er, der Engel! Seht hin, damit ihr ihn erkennt. Er lebt unter euch, und ihr vermögt ihn nicht zu sehen!« Seine Worte kreischten in ihren Ohren.
    Einzelne Menschen in der Menge heulten auf. Gunther spannte seinen Körper und heulte mit ihnen. Er schien keinerlei Schmerzen mehr zu verspüren. Sein Kopf warf sich rastlos von einer Seite auf die andere. Jemand krachte mit solcher Wucht gegen den Karren, dass er erbebte. Katharina musste die Beine spreizen, um nicht zu fallen. Sie sah ein Gesicht über die Seitenwand des Karrens ragen, sah weit aufgerissene Augen, gebleckte Zähne. Im nächsten Moment fuhr eine zu einer Klaue verkrümmte Hand durch die Karrenstäbe und grapschte nach Katharina.
    »Lass das!«, hörte sie Sterner fauchen.
    »Hexe!« Der Angreifer.
    »Weg hier!« Der Fremde mit den grünen Augen.
    Katharina wurde gepackt. Sie sprang von dem Karren, knickte um dabei, dann wurde sie davongezerrt, durch die Menschenmassen hindurch. Gesichter drängten sich an sie heran, sie sah in Augen, die von flammendem Licht erfüllt waren. Verkrümmte Hände streckten sich

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