Seraphim
Blutbad angerichtet hatte? Und, nicht zuletzt: Würde es wieder geschehen?
Diese Frage war es, die den Infirmarius am meisten quälte.
Würde es wieder geschehen?
Anders, als sie alle geglaubt hatten, war der vierte Inquisitor nicht gestorben, sondern nur in eine tiefe Ohnmacht gefallen, aus der er bis jetzt nicht erwacht war. Prior Claudius hatte Anweisung gegeben, ihn ins Infirmarium zu bringen, wo er nun in einem von Johannes’ Betten lag – sorgfältig mit Lederriemen ans Gestell gebunden, für den Fall, dass er plötzlich erwachte und sein Wahn noch nicht vorbei war.
Der Vorhang davor bauschte sich lautlos. Johannes vermied es, allzu lange hinzusehen, stattdessen betrachtete er seine eigenenHände, schob die Ärmel der Kutte hoch, um die Arme zu untersuchen. Kein Schweiß war zu sehen. Auch das flirrende Leuchten, das in der vergangenen Nacht jede Bewegung innerhalb seines Gesichtsfeldes umgeben hatte, schien fort zu sein. Johannes schloss die Augen, doch plötzlich sah er die lange Blutschliere vor sich, grell erleuchtet auf der weißen Wand, wie von einem Blitzschlag aus dem Dunkel gezerrt.
Hastig riss er die Augen wieder auf.
»Bruder Infirmarius?«, ertönte eine leise Stimme.
Johannes warf einen letzten Blick auf den leeren Hof, dann auf den ebenso leeren, unter der Hitze der vergangenen Tage beinahe weißen Himmel und wandte sich um.
Vor ihm stand Guillelmus, sein Famulus. Obwohl der junge Mönch schon seit fast zwei Jahren für ihn arbeitete, wirkte er noch immer eingeschüchtert, wenn er das Infirmarium betrat. Seine Augen, von langen blonden Wimpern umkränzt, quollen hervor, seine Blicke huschten über Wände und Möbel. Auch er vermied es, den Vorhang zu betrachten, hinter dem sich der bewusstlose Inquisitor befand.
»Ja, mein Sohn?« Johannes zwang sich zu einem Lächeln und suchte dabei unauffällig nach Anzeichen für Schweißausbrüche oder Gliederzittern bei Guillelmus. Zu seiner Erleichterung fand er weder das eine noch das andere. Nach den flirrenden Erscheinungen wagte er ihn nicht zu fragen. Er wollte kein Entsetzen unter den Mönchen auslösen.
»Ihr hattet um etwas zu trinken gebeten«, sagte Guillelmus und hob den Becher, den er in den Händen hielt.
Johannes nickte abwesend. Vor lauter Grübeln hatte er völlig vergessen, dass er Guillelmus zum Wasserholen geschickt hatte. Jetzt trat er vor den Jungen hin und nahm den Becher an sich. »Du bist lange fort gewesen«, sagte er und trank einen Schluck. Das Wasser war ungewöhnlich warm, als habe es seit Stunden in einem Krug herumgestanden.
»Zuerst war ich am Brunnen«, erklärte Guillelmus. »Ich habe einen Eimer mit frischem Wasser für Euch schöpfen wollen, aber Bruder Philipp hat mich aufgehalten. Er sagte, etwas sei im Brunnen, ein totes Tier vielleicht. Offenbar hat das Wasser einen seltsamen Geschmack,darum musste ich in die Küche laufen und nachsehen, ob man dort noch einen Krug für Euch hatte.«
Johannes unterdrückte ein Seufzen. Die Versorgung des Klosters mit frischem Wasser war eines der großen Probleme, mit denen die Predigermönche zu kämpfen hatten. Ganz in der Nähe befand sich eine Sickergrube, und offenbar drang deren Inhalt in regelmäßigen Abständen durch das Erdreich und verseuchte den klostereigenen Brunnen. Johannes hob den Becher an die Nase und roch daran.
Frisches, sauberes Wasser. Er lächelte Guillelmus an, freundlich diesmal und offen.
»Bruder Philipp hat es aus dem Brunnen auf dem Hauptmarkt geholt.« Der junge Mönch senkte den Kopf. »Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?«
Johannes leerte den Becher, dann gab er ihn zurück. »Im Moment nicht. Du kannst gehen und den anderen im Garten helfen.«
Guillelmus nickte, aber er rührte sich nicht.
»Was hast du auf dem Herzen?« Johannes beobachtete, wie er in Richtung des Bettes sah, den Blick jedoch gleich darauf abwandte. »Der Mann macht dir Angst, oder?«
Guillelmus fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Dann nickte er.
Johannes gab sich einen Ruck. Mit zwei Schritten war er an dem Bett und zog den Vorhang zur Seite. Der Inquisitor lag auf dem Rücken. Johannes hatte ihn bis zum Kinn mit einem dünnen Laken zugedeckt, und unter dem weißen Stoff zeichneten sich die Konturen des Mannes und jene der Riemen ab, die über Brust und Oberschenkel verliefen. An den Stellen, an denen sich seine Hände befanden, waren zwei deutliche Beulen zu erkennen. An diesen Beulen blieb Guillelmus’ Blick haften.
»Er hat die Hände
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