Seraphim
schließlich auch warme hinzu.«
Auch Katharina hatte bis heute keine Erklärung für diesen Widerspruch gefunden, aber ihr war völlig bewusst, dass sie sich auf sehr dünnes Eis begab, wenn sie hier und jetzt die Mediziner Nürnbergs angriff. »Meister Erhard ist vom Stadtrat vereidigt«, sagte sie deshalb. »Er gilt als Fachmann auf dem Gebiet von Aderlass und Schröpftechnik – und er ist Physicus.«
»Ein Studierter! Pah!« Bettine rümpfte wütend die Nase. Ein wenig Blut schoss ihr in die Wangen und vertrieb die ungesunde Blässe daraus. »Du hast nicht studiert, und du weißt zehn Mal so viel wiedieser Schwachkopf, auch wenn du dich noch immer weigerst, mir mehr über diese Isobel zu erzählen, von der du dein Wissen hast.«
Katharina fuhr sich mit dem Finger über die Wange, wo eine einzelne Haarsträhne sie kitzelte. »Ein Studierter, ja«, sagte sie mit mahnender Stimme, in der Hoffnung, dass Bettine nicht weiter in sie dringen würde. Jetzt an Isobel zu denken würde alles nur noch schlimmer machen. »Soweit ich weiß, hat er sogar in Wien Astrologie gehört.«
»Ja, ja, und das zeigt er ganz deutlich, indem er mir sein albernes Männlein unter die Nase hält – als Beweis für seine Kunst. Eine Puppe!«
Jetzt musste Katharina lachen. Ihr Ablenkungsmanöver schien erfolgreich zu sein. Der Dorn in ihrer Brust wurde kleiner. »O ja, sein Aderlassmännlein!«, sagte sie.
Meister Erhard war ein glühender Verfechter der durch die Astrologie gestützten Aderlassmedizin – so überzeugt war er von ihr, dass er sich nach einer Vorlage aus einer medizinischen Handschrift eine hölzerne Puppe hatte schnitzen lassen, auf der die die Körperregionen beherrschenden Tierkreiszeichen eingeritzt waren. Nach ihren Vorgaben – und nach eingehender Betrachtung der Sterne – führte er dann seine Behandlungen durch und konnte von sich behaupten, dass ihm in den letzten zehn Jahren kein einziger Schützling weggestorben war.
»Trotzdem würde ich zu gerne wissen, warum du mir soviel besser helfen kannst als die Studierten«, sagte die Handwerkersfrau plötzlich und zeigte Katharina damit, dass sie nicht gewillt war, ihre Neugier zu bezähmen. »Du weißt genau, was die Studierten tun, kennst fast alle ihre Behandlungsmethoden. Aber deine Tränke und Tinkturen, ach was, allein die Gespräche mit dir machen, dass ich mich besser fühle!«
Katharina biss sich auf die Lippe und entzog Bettine ihre Hand. Ihren fragenden Blick überging sie, erhob sich und trat an das mit blauem Samt verhängte Fenster. Auf einmal hatte sie das Gefühl zu ersticken. Sie zog die Vorhänge auf, stützte sich rechts und links des Fensters an der Wand ab. Sonnenstrahlen wärmten ihr Gesicht, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, fiel ihr Blick auf dieeigenen Handgelenke. Rasch nahm sie die Hände herunter und ließ die Ärmel ihres Kleides über die Haut rutschen.
»Ich hatte eine gute Lehrerin«, sagte sie.
»Isobel. Die Frau aus Antwerpen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Bettine wusste, dass Katharina viele Jahre nicht in Nürnberg gelebt hatte.
»Ja. Aber genug jetzt davon!« Katharina drehte sich um. Mit dem Rücken gegen das Fensterbrett gelehnt, schaute sie Bettine streng an. Sie war froh darüber, dass deren Neugier nachließ.
Aber noch froher war sie, dass Bettine die unzähligen feinen Narben an ihren Handgelenken nicht gesehen hatte.
3. Kapitel
Das Infirmarium, die Krankenstube des Predigerklosters, lag über dem östlichen Kreuzgang. Von ihren Fenstern aus sah Johannes Schedel über eine Gruppe Bäume hinweg die Fassade des Dormitoriums und ein Stück des Nordhofes, der um diese Tageszeit im Schatten der hohen Klostermauern lag.
Sechs Stunden waren vergangen, seit man ihn geweckt hatte, und obwohl die Glocken die zweite Tagstunde noch nicht geschlagen hatten, drang bereits ein warmer Luftzug durch die offenstehenden Fenster und bewegte die Vorhänge vor den Krankenbetten. Es würde ein weiterer heißer Sommertag werden. Johannes, der sich gegen den Fenstersims gelehnt hatte und grübelnd hinunter in den Klosterhof schaute, rieb mit Daumen und Zeigefinger der Rechten über den Unterkiefer. Es ergab ein schabendes Geräusch: Er musste sich dringend rasieren gehen. Doch dafür hatte er jetzt keine Ruhe. Seine Gedanken kreisten in einem fort nur um eines: Wodurch war die nächtliche Wahnsinnstat des vierten Inquisitors ausgelöst worden? Welcher Irrsinn hatte den Mann befallen, dass er ein solches
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