Seraphim
wieder zurückgekehrt.
18. Kapitel
An diesem Nachmittag konnte Johannes sich weder auf die Psalmen und Gesänge bei den Gottesdiensten noch auf seine eigene Arbeit konzentrieren. In den vergangenen zwanzig Stunden war er von einem Gedanken zum nächsten getaumelt, war aufgesprungen, um seine Last laut herauszuschreien.
Seht her, ich bin schuld an den Engelmorden in eurer Stadt!
Dann wieder – vor allem, als man auf dem Leichenkarren die zweite geflügelte Leiche gebracht und in der Kapelle abgelegt hatte – war er völlig verzagt, hatte sich in einen dunklen Winkel verkrochen und die Arme über den Kopf gelegt, um sich allem nicht stellen zu müssen. Die Nachrichten, die ihm Guillelmus von den Ereignissen am Rabenstein überbracht hatte, und das anschließende Gespräch hatten jedoch eine Entschlossenheit in ihm geweckt, die er nun mit Mühe aufrechterhielt.
Gegen die elfte Stunde traf er Bruder Aurelius auf dem Gang vor dem Refektorium.
»Ich gehe ohne Erlaubnis zu meinem Bruder!«, erklärte er ihm.
Aurelius schaute ihn erstaunt an und nickte dann. »Das ist gut gesprochen. Wollt Ihr, dass ich Euch begleite, wie wir es geplant haben?«
Statt ihm eine Antwort zu geben, packte Johannes ihn am Ärmel und zerrte ihn einfach mit sich, aus dem Refektorium, die langen Gänge entlang, dann über den Nordhof und durch das Tor auf die Burgstraße.
Kaum dass sie das Haus von Hartmann erreicht hatten, fiel Johannes auf, dass die Haustür sperrangelweit auf stand.
Sein Magen drehte sich um. War seinem Bruder etwas geschehen? Vorsichtshalber zog er an dem Klingelzug, bevor der das prachtvolle Gebäude betrat.
»Hartmann?«, rief er in den breiten Flur hinein. »Bist du zu Hause?«
Aufgeregte Stimmen waren zu hören.
Sie kamen aus jenem Raum, der Hartmann als Schreibstube diente. Johannes zwang die aufsteigende Angst nieder und öffnete die Tür.
Hartmann stand an sein Pult gelehnt da, das Gesicht vor Schrecken eingefallen, die Augen weit aufgerissen. »Eine dritte Leiche? Bei allen Heiligen? Und wieder mit diesen weißen Flügeln? Wo habt Ihr sie gef...« Mitten im Satz fiel sein Blick auf seinen Bruder, und er unterbrach sich. »Johannes! Gott sei Dank!«
»Eine dritte Leiche?« Es war Bruder Aurelius, der sich jetzt in den Vordergrund drängte.
Der Büttel berichtete knapp, dass es sich bei der dritten Leiche um den Röhrenmeister handelte, der im Lochgefängnis gesessen hatte.
»Wir müssen es ihnen sagen, Hartmann!«, flehte Johannes. »Es geht so nicht weiter!«
Warnend hob Hartmann den Zeigefinger, doch es war bereits ausgesprochen.
»Wovon redet Ihr?« Misstrauisch schaute einer der beiden Büttel Johannes an.
Langsam, als weiche alle Kraft aus ihm, ließ Hartmann die Hand sinken. »Wir müssen sofort zu Bürgermeister Zeuner gebracht werden«, verlangte er mit matter Stimme.
»Warum?« Der Büttel blinzelte.
Hartmann schluckte, setzte zum Sprechen an.
Johannes machte die Männer auf sich aufmerksam, indem er sich laut räusperte. »Weil wir wissen, wer die Engelmorde begeht!«
* * *
Stille füllte Richard Sterners Haus und ließ den Puls in Katharinas Ohren laut klingen. Um nicht zu viel zu grübeln, entschloss sie sich schließlich aufzustehen. Vorsichtig setzte sie sich hin. Ihr war noch immer leicht schwindelig, doch nachdem sie einige Minuten auf der Bettkante gesessen hatte, wurde es besser.
Sie stand auf, hielt sich dabei am Bettpfosten fest, doch derSchwindel kehrte nicht zurück, also ließ sie den Pfosten los und tat einige Schritte. Es ging besser, als sie gedacht hatte.
Sie warf einen Blick auf das Bild über dem Bett.
Schlangenförmige Linien, mit einem schwarzen Kohlestift gezeichnet, und Konturen, die vage an eine Landkarte erinnerten. Das Bild war so gänzlich anders als alle Gemälde, die Katharina je in ihrem Leben gesehen hatte, so wenig bunt und so rätselhaft, dass sie sich kopfschüttelnd abwandte.
Das Bücherregal schien ihr wesentlich interessanter zu sein.
Sie trat davor und ließ ihren Blick über die Buchrücken streifen. An drei Stellen klafften Lücken in der Reihe, und sie fragte sich, ob Richard die betreffenden Bücher gebraucht und irgendwo in seinem Kontor liegen hatte.
Der Gedanke an Richards Arbeitszimmer weckte Neugier in ihr. Sie wusste einiges über seine Kindheit, aber kaum etwas darüber, wie er lebte und was ihn interessierte.
Spontan beschloss sie, das zu ändern und sich ein wenig in seinem Haus umzusehen. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie
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