Seraphim
Katharina nicht mehr. Ein Engel ist er ... Sie stieß einen langgezogenen qualvollen Schrei aus. »Faro ist tot?«
»Wie Matthias, ja. Er war dein Verlobter, nicht wahr? Du armes Kind! Erst den Bruder zu verlieren, und dann auch noch den Liebsten.«
Er war nicht mein Liebster , hätte Katharina fast erwidert, doch sie tat es nicht. Alles, was sie sagen wollte, alles, was ihr durch den Kopf schoss, war leeres, hohles Gerede. Gerede, das einzig und allein dazu dienen konnte, die Kette von Gedanken zu unterbrechen, die nun in ihrem Kopf entstand.
Faro war ebenfalls tot!
Warum hatte Sebald ihr das nicht gesagt?
Die Antwort lag auf der Hand.
Weil er ihn umgebracht hatte!
Sie legte den Kopf auf die Knie und wollte weinen, aber es ging nicht. Alles in ihr war wie zu Eis erstarrt. Sie wollte nicht mehr denken, wollte gar nichts mehr tun, nur noch hier in der Finsternis sitzen, die Augen zusammenkneifen und nichts mehr sehen und hören. Sie presste ihre Unterarme auf die Ohren.
Aber etwas war anders als sonst, wenn sie in spinnwebendurchzogene Starre zu versinken drohte. Heute blieb das Gefühl der Mattigkeit aus, stattdessen waren ihre Gedanken klar und scharf und drehten sich nur um eines.
Sebald war der Engelmörder. Er hatte Matthias getötet. Und Faro.
Matthias! Der Gedanke an ihren Bruder durchdrang alle anderen, überlagerte sie, bis er Katharina vollständig ausfüllte. Zorn wuchs in ihrer Brust, grell und fast schmerzhaft in seiner Intensität. Sie hatte das Bedürfnis, um sich zu schlagen, Sebald die Fingernägel in dasentstellte Gesicht zu krallen und ihm auch noch den letzten Rest von Menschlichkeit aus den Zügen zu kratzen.
Würde sie stark genug sein, sich ihm entgegenzuwerfen, wenn er kam und die Zelle öffnete?
Sie versuchte, diese Frage zu beantworten, doch sie konnte es nicht. Alles, was sie wusste, war: Sie wollte sich für Matthias’ Tod rächen. Sie wollte nicht sterben!
Dieser innere Aufschrei überraschte sie so sehr, dass sie die Arme wieder sinken ließ. Es war ganz deutlich: Sie wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Und schon gar nicht durch die Hand eines Wahnsinnigen.
»Sigrid?« Irgendwie musste sie hier raus.
»Ja?« Die Zunge der alten Frau schien ihr nicht so recht gehorchen zu wollen. Es hörte sich an, als sei Sigrid kurz davor einzuschlafen.
»Das Bild in eurer Küche, das mit Jutta von Sponheim.«
»Hm?«
»Wusstest du, dass Sebald eine Schwanenfeder dahinter aufbewahrt hat?« Wenn Katharina gehofft hatte, dass Sigrid durch dieses Wissen die gleichen Schlüsse ziehen würde wie sie selbst, so hatte sie sich getäuscht.
»Natürlich.«
»Warum hat er das getan?«
»Es ist eine Angewohnheit von ihm.« Sigrid seufzte schwer. »Er war noch ein Kind, da hatte er ein schlimmes Erlebnis mit einem Schwan. Seitdem hat er diese Grille mit den Federn.«
Eine Grille.
Katharina biss sich auf die Unterlippe. Eine Grille! Fast hätte sie Sigrid angeschrien: »Es ist keine Grille! Dein Sohn ist ein Mörder!« Aber sie brachte es nicht übers Herz.
Sigrid begann, leise vor sich hinzusummen, wie sie es oft tat, wenn sie in ihrer Traumwelt versunken war. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis sie nicht mehr ansprechbar sein würde.
»Diese Heiligenbilder«, fragte Katharina deshalb rasch. »Jutta von Sponheim, Johannes Chrysostomos, der heilige Franziskus. Was haben sie zu bedeuten?«
»Mein Sohn ist ein frommer Mann«, murmelte Sigrid. »Er magEngel, und alle diese Menschen ...« Ihre Stimme verlor sich in sinnlosem Gebrabbel.
Engel! Katharina hielt es auf ihrem Platz nicht mehr aus. Sie kam sich vor wie in einen großen Schraubstock gespannt. Sie sprang auf und begann, in der Zelle auf und ab zu gehen. Als die Anspannung zu groß wurde, ballte sie die Hände zu Fäusten und hämmerte damit gegen die Zellentür.
»Sebald, du Hurensohn!«, schrie sie.
»Sebald, du Hurensohn!«
Der schrille Schrei hallte durch die Gänge des Lochgefängnisses, und obwohl das Echo ihn beinahe zur Unkenntlichkeit verzerrte, erkannte Richard, wer ihn ausgestoßen hatte.
»Katharina!«, brüllte er.
»Scht!« Eine harte Hand legte sich auf seine Schulter. Einer der Büttel brachte sein Gesicht ganz dicht an Richards. »Still! Er kann Euch genauso hören wie sie.«
Vor ihnen wurden eilige Schritte laut.
»Vorwärts!«, schrie Zeuner. »Da ist er!«
Sie rannten um eine Ecke und kamen in einen Gang, der in regelmäßigen Abständen von Talglichtern erhellt wurde. Dazwischen war die
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