Seraphim
Dunkelheit zu schmalen Inseln zusammengeschmolzen, die sich scharf umrissen von den helleren Bereichen abhoben.
»Seht!« Der Büttel vor Richard blieb ohne Warnung stehen, und Richard lief beinahe in ihn hinein. Der Blick des Mannes war den Gang hinabgerichtet, und nun hob er einen Arm, um nach vorn zu zeigen.
Etwas bewegte sich geduckt von Insel zu Insel. Alles, was Richard aus der Entfernung und in dem schlechten Licht erkennen konnte, war ein gekrümmter Rücken.
»Ist das ein Mensch?«, flüsterte der Büttel durch seine schiefen Zähne.
»Natürlich ist es ein Mensch!« Zeuner war das Grauen anzuhören, das er empfand. »Hinterher, das ist er!« Er rannte weiter.
Richard folgte ihm und den anderen Bewaffneten. Um eine Ecke. Einen Gang entlang. Die Flammen der Talgfunzeln flackerten, wennsie an ihnen vorbeiliefen. Sämtliche Zwischentüren des Gefängnisses, die üblicherweise abgeschlossen sein sollten, standen offen. Schatten zuckten über die Wände, groß wie Titanen.
»Hilfe!«
Katharinas Ruf ließ sie innehalten. Die beiden Zeichen über den Zellentüren, der rote Hahn und die schwarze Katze, fielen Richard ins Auge. Durch das kleine Fensterchen der Hexenzelle schaute ihm ein bleiches Gesicht entgegen, und während die Büttel die Verfolgung von Sebald Groß weiterführten, blieben Richard und Zeuner stehen.
»Katharina! Gott sei Dank!« Richard ließ das Schwert sinken, das er im Laufen vor sich erhoben gehalten hatte. Zeuner schloss die Zelle auf, und im nächsten Moment fiel Katharina Richard um den Hals. »O Gott, Herr Sterner, ich dachte, Ihr seid es, aber ...« Sie musste Luft holen. »Sebald ist der Engelmörder!«
»Ich weiß!« Richard legte den Arm um ihre Schultern. Sie zitterte stark, aber sie stand aufrecht und blickte ihm forschend ins Gesicht. »Ich fürchtete schon, er hätte ...« Er sprach es nicht aus. Vor ihnen, ein Stück den Gang entlang, war ein metallisches Scheppern zu hören.
»So eine verdammte Scheiße!«, schrie der Büttel mit den schiefen Zähnen. »Er ist weg!«
»Kommt mit!« Zeuner führte Richard und Katharina zu den anderen.
Die standen in einem größeren Raum, in dessen Ecke ein gemauerter Brunnenschacht in die Tiefe führte. In einer Wand war eine eisenbeschlagene Tür angebracht, gegen die einer der Büttel gerade mit der Faust donnerte.
»Die Tür zur Lochwasserleitung!«, erklärte er. »Sie stand offen, und Groß ist durch sie entkommen.«
Während der Büttel auf Katharinas Bitte hin zurück zur Hexenzelle ging und Sigrid holte, führte Zeuner die anderen in Sebalds Küche und von dort aus die Treppe hinauf in die Wohnstube.
Hier standen sie, unschlüssig, was sie nun tun sollten. Zeuner entdeckte die Schwanenfeder und bückte sich, um sie aufzuheben. Der Büttel trug Sigrid die Treppe hinauf und durch die Stube zu ihrer eigenen Kammer. Als er zurückkehrte, pochte es an der Tür.
»Sebald? Bist du zu Hause?«
»Dieser Idiot!«, fluchte Zeuner. »Was macht er hier?«
Es war Hartmann Schedel, der vor der Tür stand.
»Macht ihm auf!«, befahl Zeuner dem Büttel, und der gehorchte. Mit einem gleichzeitig verwirrten und erschrockenen Gesichtsausdruck betrat Schedel die Stube. »Ihr ...?«
»Könnt Ihr mir verraten, was Ihr hier zu suchen habt?«, schrie Zeuner ihn an.
Schedel zuckte zusammen, aber dann festigten sich die Linien um seinen Mund, und er nahm den Kampf auf. »Ihr habt ihn nicht gefunden«, stellte er fest.
Der unerwartete Widerspruch in den Augen des Medicus ließ Zeuners Zorn verpuffen. »Nein«, sagte er.
Schedel nickte. »Dachte ich mir. Er kennt die Gänge unter der Stadt besser als jeder andere von uns. Meiner Meinung nach fangen wir ihn nur, wenn es uns gelingt, sein Vertrauen zu erlangen.«
»Ihr wollt ...« Zeuner unterbrach sich, als Schedels Blick auf die Bilder an der Wand fiel und er vor sie hintrat. Mit der Spitze seines Zeigefingers strich der Medicus über die goldenen Lippen von Johannes Chrysostomos. Dann bückte er sich, hob das heruntergefallene mit Jutta von Sponheim auf und ächzte.
»Wenn wir bisher nicht sicher waren«, flüsterte er und strich auch der Heiligen über das Gesicht, »dann sind wir es jetzt.«
Katharina verstand nicht, was er meinte. Schedel hängte Jutta von Sponheim an ihren Platz zurück. »Ihr wisst, dass den meisten Heiligen ein Attribut zugeordnet wird, nicht wahr?«, fragte er.
Katharina wies auf den heiligen Johannes. »Zu ihm gehört der Bienenkorb.«
Schedel nickte. »Ja. Aber
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