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Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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er die kindliche, hohe Stimme voller Angst und Zärtlichkeit zugleich. »Das ist doch ein schöner Engel für Mutter, oder nicht?«
    Jemand streichelte ihn im Gesicht, dann am Hals; die Berührung fühlte sich an wie Feuer. Er hörte sich wimmern, und er konnte nichts dagegen unternehmen. Etwas krabbelte mit winzigen, heißen Füßen über die nackte Haut an seiner Brust.
    »Ja, ja. Ein herrlicher Engel!«, sagte die Kinderstimme. »Er hat so schöne Augen!«
    Richard wurde umgedreht. Die Seile, die ihn aufrecht hielten, knarrten leise.
    Dann wurde ihm das Hemd vom Leib gerissen.
    »Das Warten ist zu Ende«, sagte die Kinderstimme. »Jetzt ist es soweit!«
    Dann fraß sich etwas mit brutalem Schmerz zwischen Richards Schulterblätter und ließ ihn schreien.
    * * *
    Eine Buchseite zerriss unter Johannes’ fliegenden Fingern, doch es kümmerte ihn nicht. Name um Name, Daten und Zahlen flogen an ihm vorbei, doch der, den er suchte, war nicht darunter.
    »Endlich!« Hartmann ließ das Buch sinken, das er in den Händen hielt. Er tippte auf die aufgeschlagene Seite. »Hier ist es!«
    Er drehte das Buch um, so dass Johannes das Dokument lesen konnte. Es handelte sich um eine Urkunde. Helles Pergament, das dicht mit schwarzer Eisengallustinte beschrieben war. Die Urkunde war ein Stück kleiner als die anderen, die in dem Buch zusammengebunden waren, aber das kümmerte Johannes nicht. Er überflog die Zeilen. »... erteilt der Rat der Stadt Enzo Pömer, der geboren wurde in der Stadt Padua in Italien ...« Weiter kam er nicht, denn Hartmann klappte das Buch zu.
    »Das ist der Beweis, den wir brauchen! Komm!« Er klemmte es sich unter den Arm und rannte aus dem Raum.
    * * *
    Als Katharina unten in der Küche ankam, stand Bertram bereits in der Brunnenstube und machte sich an der Tür zur Lochwasserleitung zu schaffen. Gerade als er sie aufstieß, waren von oben aus der Wohnung eilige Schritte zu vernehmen.
    »Frau Jacob?«
    Katharina erkannte die Stimme sofort.
    »Doktor Schedel!«, rief sie. »Wir sind hier unten!«
    Hartmann Schedel kam die Treppe heruntergestürzt, hinter ihm sein Bruder, dessen weißer Mönchshabit in der Düsternis leuchtete. Hinter Johannes wiederum folgten zwei Stadtbüttel, die ihre Hände kampfbereit an den Griffen ihrer Schwerter liegen hatten. Beide trugen hell leuchtende Pechfackeln, und als deren Licht auf Katharina fiel, ächzte der eine der Büttel. »Ihr schon wieder!«
    Katharina neigte den Kopf. »Ludwig.«
    »Wir haben etwas gefunden«, fuhr Hartmann Schedel dem Büttel in die Parade und schnitt jedes weitere Wort mit einer harschen Handbewegung ab.
    »Redet!« Bertram stand neben der Tür zur Lochwasserleitung und wies alle anderen mit eindringlichen Handbewegungen an, sie zu durchqueren.
    Der Löve ging als erster, dann folgten die beiden Büttel, schließlich Hartmann Schedel. »Es ist tatsächlich Pömer«, sagte er. »Als er die Bürgerrechte von Nürnberg beantragte, musste er angeben, wo er geboren ist und wo er vorher gelebt hatte.« Er blieb stehen undsah zu, wie Bertram die Tür sorgfältig schloss, nachdem sie alle die Wasserleitung betreten hatten. »Er stammt aus Padua.«
    Katharina sah ihn fragend an. In ihrem Kopf wollten sich die einzelnen Teile zu einem Bild formen, aber es ergab noch keinen Sinn für sie.
    »Lorenz«, murmelte Bruder Johannes, »heißt auf Italienisch Lorenzo.«
    »Enzo!«, entfuhr es Katharina. »Er ist Sebalds Bruder?«
    »Wahrscheinlich!« Hartmann Schedel wurde von Bertram gepackt und vorwärtsgeschoben. Im Laufen sprach er weiter: »Er muss sich seinen fetten Leib mit Absicht angefressen haben, so dass keiner von uns ihn erkannte. Er war noch sehr jung, als er Padua verließ. Außerdem ist er inzwischen grau geworden. Wir konnten ihn nicht erkennen.«
    »Vielleicht wollten wir es auch nur nicht«, warf Bruder Johannes ein. Auch in seinen Ohren, das war ihm anzusehen, waren Schedels Worte ein verzweifelter Versuch, sich zu rechtfertigen.
    »Aber warum diese Engelmorde?«, fragte Katharina. Der Weg stieg jetzt merklich an unter ihren Füßen, und obwohl es hier unten feucht und kühl war, kam sie ins Schwitzen.
    »Vielleicht aus dem gleichen Grund, den wir Sebald unterstellt haben«, entgegnete Schedel. »Vielleicht war er dabei, als wir den Schwan zergliederten.«
    Bruder Johannes blieb mit einem Ruck stehen. Einer der Büttel, der ihre kleine Gruppe nach hinten absicherte, prallte gegen ihn. Fluchend hielt er an, doch der Mönch beachtete ihn gar

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