Seraphim
vorhin, als er selbst unaufmerksam gewesen war. Der Prior ließ ihm dies jedoch durchgehen. »Sie bleiben vorerst in der Kapelle. Da liegen sie gut.«
»Und wie lange?«
»So lange, bis ich mir klar darüber geworden bin, wie wir in dieser Angelegenheit weiter vorgehen werden.« Claudius vollführte eine winkende Geste. »Geht jetzt«, befahl er. »Und berichtet mir alles, was die Brüder sich über die Morde erzählen.«
Johannes wollte noch etwas sagen, aber er wagte es nicht. Zu finster starrte Claudius vor sich hin.
Der Infirmarius deutete eine leichte Verbeugung an und verließ eilig das Gemach des Priors.
* * *
»Faro! Wo ist Faro?« Sebalds Frage drang nur halbwegs zu Katharina hindurch.
Sie schaute auf die klaffende Wunde an Matthias’ Bauch, und die Vorstellung, wie durch diese Wunde das Leben aus seinem Körper geronnen war, ließ sie schwanken.
Einer der beiden Flügel hat sich abgespreizt, als ich ihn umgedreht habe , dachte sie. Jetzt ragte er unter seinem Körper hervor. Die einzelne Schwungfeder, die zuvor abgestanden hatte, war nicht mehrzu sehen, dafür jedoch klaffte an der Stelle, an der sie sich ursprünglich befunden hatte, eine Lücke. Katharina strich darüber, zog an den danebenliegenden Federn, um das Loch zu verdecken. Kälte drang von dem feuchten Felsboden in ihren Körper, ließ ihre Knie schmerzen und ihre Hüftgelenke auch.
Undeutlich nur hörte sie Sebalds gemurmelte Schutzgebete, und sie spürte, wie er sich an ihr vorbeischob, um tiefer in den Gang zu gehen.
Die Federn knisterten unter ihren Fingern. Warum nur konnte sie diese Lücke nicht fortbekommen? Es sah so unordentlich aus!
Sebald trat neben sie. »Wir müssen Faro suchen!«
Katharina nickte, aber sie rührte sich nicht. Faro? Wie konnte Sebald von ihr verlangen, Matthias hier allein zu lassen? Ihren Bruder! Sie ließ von den Federn ab. Faro. Sie konnte jetzt nicht von hier fort. Sie dachte daran, wie Faro in der letzten Zeit begonnen hatte, ihr schöne Augen zu machen, und wie sie sich ab und an gefragt hatte, ob ihr das gefiel oder nicht. Sie rief sich Faros Lachen ins Gedächtnis, seine fröhliche Art und die Neckereien, die er ihr oftmals zugeworfen hatte.
Ihr Blick fiel auf das das bleiche Gesicht ihres Bruders, und fort waren sämtliche Erinnerungen. Plötzlich war die Feder nicht mehr als eine Feder. Katharina hob die Hand und berührte Matthias’ Wange. Ihr Matthias, der sie nun auch noch verlassen hatte, wie ihr Vater, wie Egbert – wie alle, die sie liebte, war er ihr genommen worden, und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sie streichelte Matthias’ Hände, seine Unterarme, an denen die Sehnen so deutlich hervortraten, als habe er kurz vor seinem Tod mit jemandem gerungen.
Jemand fasste sie an die Schulter. Sebald.
»Katharina!«, sagte er. »Hörst du mich?« Er ließ sich neben Matthias’ Leiche auf die Knie sinken. »Ob er starb und zurückgeschickt wurde, um den Dämon zu bekämpfen, der ihn getötet hat?«
Katharina war sich bewusst, dass er diese Frage an sie gerichtet hatte, aber sie fühlte sich unfähig, sie zu beantworten. Sie wollte nicht mehr denken, sie konnte nicht denken. Sie senkte den Kopf unter der furchtbaren Last, die auf sie niedergesunken war.
Dann spürte sie einen dumpfen Druck an ihrem Oberarm. Sebald hatte nach ihr gegriffen, und jetzt schüttelte er sie. »Wo ist Faro?«
Seine Worte drangen mit Verzögerung zu ihr hindurch. Ein Dämon? Sie lauschte in die Stille des Ganges hinein, doch es war nichts zu hören, außer dem regelmäßigen Tropfen von Wasser auf dem Steinfußboden und ihrem eigenen und Sebalds schwerem Atem. Sie dachte an den toten Schwan auf der Schüdt.
»Er wurde nicht zurückgeschickt«, flüsterte sie. »Das hier ist kein Gotteswerk, das hat ein Mensch ...«
Ein Geräusch unterbrach sie. Es klang wie der Laut eines Tieres.
Sebald sprang auf die Füße und hielt sein Licht in die Höhe. Katharina starrte hinter ihm her, als er einige zögerliche Schritte den Gang entlang machte.
Plötzlich schrie er auf, und der Schrei mischte sich mit einem weiteren Stöhnen. Mühsam stemmte Katharina sich in die Höhe. Sie musste Sebald helfen, wenn er in Gefahr war, sie durfte ihn nicht auch noch verlieren, nach Egbert und Matthias nicht auch noch ihn.
Also wankte sie hinter ihm her bis zur Einmündung eines Seitenstollens.
Seine Lampe beleuchtete ein Gesicht – ein lebendes Gesicht.
»Faro!«, entfuhr es Katharina. Sie drängte sich an Sebald
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