Seraphim
vorbei.
Faro hockte in dem Stollen, den Rücken gegen die Wand gelehnt, beide Beine weit von sich gestreckt, und starrte sie mit wilden Blicken an. Sein Kopf warf sich von rechts nach links, als versuche er nein zu sagen, immer wieder nein, nein, nein. Dann endlich öffnete sich sein Mund, und der Laut, der über seine Lippen quoll, war wirklich der Laut eines Tieres. Eines gequälten, leidenden Tieres. Nur undeutlich konnte Katharina die Worte verstehen, die er stammelte.
»... der Engel des Herrn kam über mich ...«
Er hob den rechten Arm, und im nächsten Moment riss Sebald Katharina zurück. Gerade noch sah sie, warum er das tat.
In Faros verkrampfter Hand lag ein langes, blutverschmiertes Messer. Es rutschte zwischen seinen Fingern hervor und prallte mit einem Klirren auf den Boden.
Katharinas Beine gaben unter ihr nach. Sie spürte, wie sie fiel.
5. Kapitel
Einen Tag später
Nürnbergs größter Marktplatz lag nördlich der Pegnitz, ganz in der Nähe einer zweibogigen Steinbrücke, die den Fluss an der engsten Stelle überspannte. Mehr als zweihundert Jahre zuvor hatte sich hier ein Judenviertel befunden, doch die Juden waren von dort vertrieben worden, damit man an Stelle des Ghettos den Marktplatz anlegen konnte.
Der Platz war so weitläufig, dass er keinen einheitlichen Namen trug; man kannte ihn als Fischmarkt oder als Grünen Markt. Sein nördlicher Teil hingegen wurde als Kälbermarkt bezeichnet, hier hing stets der Geruch von Vieh, von Gülle und Dung in der Luft.
An der Ostseite des Platzes stand die Frauenkirche, und schräg davor hatte man ein wuchtiges Holzgerüst aufgebaut, auf dem während des vergangenen Reichstages öffentliche Disputationen stattgefunden hatten. Die Westfassade der Kirche wurde von einem einzigen runden Türmchen gekrönt, das die Bürger noch heute an ihre einstige Funktion als kaiserliche Hofkapelle erinnerte. Ihre mit zahllosen Nischen und Statuen verzierte Westfassade konkurrierte mit den nebenstehenden Patrizierhäusern, und es gab nicht wenige, die der Ansicht waren, die Kirche verliere den Vergleich.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes stand eine Reihe von Gebäuden, die den wohlhabendsten und einflussreichsten Männern der Stadt gehörten, Schöffen und Konsuln, Mitgliedern des Stadtrates, den erfolgreichsten Händlern der Stadt. Bernhard Walther lebte in einem dieser Häuser, ein Kaufmann, dessen Gelehrsamkeit weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt war und der ein Schüler des vor ein paar Jahren verstorbenen hochverehrten Mathematikers und Astronomen Johannes Müller von Königsberg gewesen war. Und ebenso Enzo Pömer, ein Getreidehändler, auf dessen Haus Richard Sterner jetzt zusteuerte.
Nach dem Auszug von König Maximilian vor einigen Tagen war es in der Stadt zuletzt sehr ruhig gewesen. Die Menschen hatten die Gelegenheit genutzt und sich nach den Strapazen des langen Reichstags ausgeruht. Darum wunderte Richard sich ein wenig über das Gedränge, das auf dem Marktplatz herrschte. Überall wurde disputiert. Die Menschen standen in kleineren und größeren Gruppen zusammen, so dass er sich immer wieder an irgendwelchen Leibern vorbeizwängen musste. Dabei schnappte er den einen oder anderen Wortfetzen auf.
»... wenn ich es euch doch sage: Er hatte große weiße Flügel!«
»In welchen Zeiten leben wir nur, wenn der Teufel es jetzt schon schafft, Gottes himmlische Heerscharen zu vernichten?«
»Glaubt Ihr, dass es ein Omen ist?«
Richard war versucht, bei einer der Menschenansammlungen stehenzubleiben, doch bevor er sich dazu entschlossen hatte, rempelte ihn jemand unsanft an. Hände krallten sich in den Kragen seines schwarzen Mantels, und er wurde durchgerüttelt. Ein verzerrtes Gesicht schwebte dicht vor ihm; saurer Atem schlug ihm entgegen. »Bereut!«, brüllte ihm der Angreifer entgegen. Er entblößte dabei eine Reihe schwarzer Zähne, von denen zwei abgebrochen waren. Richard wandte den Kopf zur Seite, um dem Mundgeruch zu entkommen.
»Bereut!«, wiederholte der Mann. »Das Ende aller Zeiten ist nahe! Gottes Engel stürzen aus dem Himmel in die schwarzen Tiefen der Erde hinab! Wahrlich, ich sage Euch: Der jüngste Tag ist nicht mehr fern!« Er wollte Richard erneut schütteln, doch der packte ihn bei den Handgelenken und befreite sich aus der Umklammerung.
»Geht mir aus dem Weg!«, befahl er mit ruhiger, aber strenger Stimme.
Der Mann wich einen Schritt zurück. Seine Hände sanken herab, die Finger noch zum Greifen
Weitere Kostenlose Bücher