Seraphim
gemalten Portraits, wie sie dieser Tage in der Stadt so beliebt waren. Es waren Zeichnungen. Auf große Papierbogen hingeworfene Skizzen von Reiterstatuen, von Engelreliefs mit wallenden Gewändern und kleinen Putten, kindlichen Engelsfiguren mit winzigen Flügelchen und dicken Backen und Fingern.
In Richards Augen bewiesen diese Skizzen, wie viel Kunstverstand Enzo Pömer sein Eigen nennen konnte, denn die Zeichnungen stammten allesamt aus der Hand eines berühmten italienischen Künstlers. Andrea del Verrocchio hatte sie angefertigt, ein Maler und Bildhauer der Medici und Lehrer des berühmten Leonardo da Vinci.
Während Thomas ihn durch einen langen Gang führte, der das Haus von der vorderen Fassade bis zum Hinterhof in zwei Teile trennte, fiel Richards Blick durch eine halb offenstehende Tür in Pömers Kontor, wo der Getreidehändler seinen diversen ungewöhnlichen Beschäftigungen nachging. Auf einem kleinen Tischchen standen mehrere Metallpuppen mit Musikinstrumenten. Richard wusste, dass diese Puppen mit Hilfe einer komplizierten Mechanik in ihrem Inneren angetrieben werden konnten und dann eine kleine Melodie spielten. Er hatte Pömers Freude an Apparaten dieser Art immer ein wenig übertrieben gefunden, denn ihm wollte nicht einleuchten, wozu sie gut sein sollten. Wenn man die Mechanik benutzte, um das Zifferblatt einer Uhr anzutreiben und damit die Zeit zu messen, fand Richard das sinnvoll, aber ein solches Spielzeug?
Er lächelte bei dem Gedanken daran, dass Pömer abends vor seinen Apparaten saß und mit leuchtenden Augen den Bewegungen zusah.
Thomas schien bemerkt zu haben, wohin er blickte, denn er lachte leise. »Der Hahn, den er neulich gekauft hat, funktioniert immer noch nicht«, verriet er. »Aber er gibt nicht auf, er hat mir erst gestern wieder geschworen, dass er ihn zum Krähen bringen wird.«
Sie ließen das Kontor hinter sich, und Thomas führte Richard tiefer ins Haus hinein. Hier hing das einzige Ölgemälde, ein Portrait von Maria Pömer, Enzos Gattin, die vor vielen Jahren im Kindbett gestorben war. Bei seinen bisherigen Besuchen war Richard an dem Bild vorbeigeeilt, ohne es näher in Augenschein zu nehmen, doch heute verlangsamte er seine Schritte. Plötzlich erinnerten Marias blaue Augen ihn an die Augen seiner eigenen Mutter, an den Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte, wenn er als kleiner Junge Unsinn angestellt hatte.
Ein wehmütiges Lächeln glitt über seine Züge, verschwand jedoch sofort wieder, denn nun öffnete Thomas eine Tür und wies mit einer schwungvollen Handbewegung eine steile Treppe hinunter. »Bitte sehr, Herr Sterner.«
Richard warf einen Blick auf eine zweite, eine schmucklose Holztür, die ebenfalls vom Flur abging und in den rückwärtigen Teil des Hauses führte. Er wusste, dass Pömer hier einen Teil seiner Getreideernte lagerte. »Danke, Thomas.«
Der Diener wartete, bis Richard die abwärts führenden Stufen betreten hatte, dann schloss er die Tür hinter ihm.
Ein dickes Seil, das mit Eisenhaken an der Wand festgemacht war, diente als Handlauf, und Richard umfasste es, als er sich daranmachte, die Treppe hinabzusteigen. Zwei Laternen mit dicken weißen Kerzen erhellten die steinernen Stufen. Die Flammen rußten leicht.
Die Stufen waren ausgetreten und ein bisschen feucht, und unwillkürlich krallten sich Richards Finger um den gedrillten Hanf des Seils. Sein Innerstes war erfüllt von den unterschiedlichsten Gefühlen. Freudige Erwartung mischte sich mit leichtem Unbehagen, das Richard jedoch so weit wie möglich von sich schob.
Er ließ die letzten Stufen hinter sich und stand in einem Kellerraum mit Kreuzgewölbe. Vier Rippen aus hellem, glattem Stein liefen am höchsten Punkt der Decke zusammen. Wie Knochen! , schoss es Richard durch den Kopf.
Gleich darauf fiel sein Blick auf den Tisch. Inmitten des Raumes stand er, direkt unter dem Abschlussstein des Gewölbes. Ein schweres weißes Tuch war über ihn ausgebreitet und verdeckte das, was sich darunter befand. Ein neues Studienobjekt.
Schlagartig wurden Richards Hände feucht, und ein feines Kribbeln rann ihm über die Kopfhaut und hinunter bis zu den Oberschenkeln. Er trat näher und betrachtete die undeutlichen Umrisse unter dem Tuch.
Sein Magen zog sich in Erwartung des Kommenden zusammen. Kurz war er versucht, einen Zipfel des Tuches zu lüften. Er schloss die Hände zu Fäusten, spürte, wie sich seine Fingernägel in die Handballen bohrten. Dann hob er die Hände vor die Augen und
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