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Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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öffnete sie, bis die Finger ganz gerade waren.
    Kein Zittern heute. Gut.
    Schließlich wandte er sich von dem Tisch ab.
    Neben einem bogenförmigen Durchlass, der tiefer in die Finsternis des Kellers hineinführte, stand ein hölzernes Regal. Es war vollgestopftmit metallischen Instrumenten aller Art: Skalpelle mit haarfeinen Schneiden, Zangen und Bohrer lagen Seite an Seite und warteten darauf, dass sie zum Einsatz kommen sollten. Ein ganzer Stapel Schüsseln lehnte windschief an einer Reihe Bücher, die so groß waren, dass sie von einem Mann allein kaum gehoben werden konnten. Neben dem Regal stand ein massives Stehpult, geeignet dafür, die Folianten aufzunehmen, jedoch im Moment leer und unbenutzt.
    Über allem lag ein vertrauter, leicht süßlicher Geruch, der Richard in der Kehle kitzelte und ihm ein Räuspern entlockte.
    »Mein lieber Freund!«
    Die heisere Stimme, die völlig unerwartet von der Treppe her erscholl, ließ Richard zusammenzucken. Er blickte auf und sah Enzo Pömer das Kellergewölbe betreten.
    Der Weizenhändler war ein blasser, überaus fetter Mann von vierundfünfzig Jahren, dessen Wangen von seinem Gesicht hingen wie die Lefzen eines alten Jagdhundes und dessen Augen in so vielen Falten verborgen lagen, dass Richard sich manchmal fragte, ob er überhaupt sehen konnte. Seine grauen Haare trug Pömer sehr kurz geschnitten, und trotz seiner unförmigen Figur, die an eine gefüllte Schweinsblase auf Beinen erinnerte, konnte er sich unglaublich schnell und geschmeidig bewegen. Jetzt kam er mit weit ausgebreiteten Armen und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen auf Richard zu und wollte ihn an sich drücken.
    Mit einem raschen Schritt zur Seite wich Richard ihm aus. »Pömer!« Er neigte den Kopf zur Begrüßung. »Ist die Ratssitzung zu Eurer Zufriedenheit verlaufen?« Wie immer, wenn er Pömer erblickte, stelle er sich unwillkürlich die Frage, wie der Getreidehändler als junger Mann ausgesehen haben musste.
    Pömer lachte auf, aber es war kein fröhliches Lachen. Es klang zornig. »Eher nicht, würde ich sagen!« Seit Jahren litt er an einer Halskrankheit, die seine Stimme heiser klingen ließ. Er schnaufte laut und zog dann die Nase hoch. Der Geruch von Duftwasser ging von ihm aus. Rosen, vermutete Richard. Vermischt mit dem leichten Aroma von Schweiß und gebratenem Fleisch, das an seiner Kleidung haftete.
    »Was ist geschehen?« Richard fuhr mit den Fingerspitzen über die Oberfläche des Pultes. »Ich meine, dass man eine außerordentliche Ratssitzung einberufen hat.«
    Pömer kam zu ihm und stellte sich vor das Regal. Suchend ließ er seine Blicke über die Geräte dort schweifen. »Oh, etwas sehr Unschönes.«
    »Die Leute auf der Straße reden davon, dass man eine Leiche gefunden hat. In den Felsengängen unter der Stadt. Stimmt das?«
    Pömer verzog das Gesicht. Mit dem Mittelfinger schnippte er gegen eine Messingschale, die daraufhin einen langgezogenen glockenhellen Ton von sich gab. »Leider ja.«
    »Was ist dran an den Gerüchten?« Richard wandte sich von dem Pult ab und sah Pömer ins Gesicht. Obwohl es hier unten kühl war, schien dem Getreidehändler warm zu sein. Er hatte rote Flecken auf den Wangen, und ein schwacher Schweißfilm stand auf seinem Nasenrücken.
    »Gerüchte?«
    »Thomas hat mir erzählt, dass die Leute den Toten für einen Engel halten.«
    Pömer rieb sich die Nase. »Ein Engel. Ja, das habe ich auch gehört. Leider kann ich Euch nichts Näheres darüber sagen.«
    Richard musterte ihn. Er fragte sich, ob Pömer nur einfach nicht wollte. Der Getreidehändler hatte seinen Sitz im Inneren Rat, dem zentralen Organ der Stadtverfassung, noch nicht sehr lange. Er war kurz nach Ostern als Alter Genannter aufgenommen worden und somit noch kein richtiger Bürgermeister, sondern eine Art Ratslehrling. So jedenfalls hatte Pömer selbst seine Stellung im Stadtrat erläutert, und Richard vermutete, dass der Getreidehändler wirklich nicht mehr wusste. Richard kannte sich mit den Gepflogenheiten im Inneren Rat nicht besonders gut aus, aber es erschien ihm plausibel, dass man Männern in Pömers Position nicht alle Details einer Morduntersuchung mitteilte. Zwar übertrug man ihnen, wie allen anderen Ratsmitgliedern auch, in regelmäßigen Abständen das Amt eines Lochschöffen, doch Pömer hatte Richard einmal erzählt, dass er nur für die kleineren, in seinen Augen völlig langweiligen Fälle zuständig war.
    »Wie dem auch sei«, sagte Richard. »Wir sollten in der

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