Seraphim
mit Leder bezogenen Holzdeckel. »Was, glaubt Ihr, befindet sich hier drin?« Sein Gesicht glühte wie das eines kleinen Kindes, das ein großartiges Geheimnis hütete.
Richard zuckte die Achseln. »Eine neue Schrift über die Kunst der anatomia , vermute ich.« Im Stillen beglückwünschte er sich für seinen Entschluss von eben, Pömer nicht zurechtzuweisen. Zu groß war die Gefahr, dem fetten Getreidehändler zu unterliegen. Sicher, er, Richard, führte die Klinge, sobald sie hier unten zusammenkamen, aber Pömers Stellung war ebenso unerlässlich wie die seine. Er war es, der die Hand an der Geldbörse hatte. Beim Anblick des neuen Buches wurde Richard dies mit Macht bewusst. Ohne Pömers finanzielle Unterstützung müsste er sehen, wo er bliebe!
»Besser, mein Lieber, viel besser!«, kicherte Pömer. »Es ist ...«, er hielt inne, um die Dramatik seiner nun folgenden Worte zu erhöhen, »... eine Kopie der Handschrift von Ibn an-Nafis, von der Ihr schon so lange träumt!« Er schlug es auf und lachte dabei leise vor sich hin.
Richards Blicke wanderten eine Weile über die engbeschriebenen Seiten. Ganz kurz war ihm bei Pömers Worten ein freudiger Schauer über den Körper gerieselt, doch der Anblick der mit Hand geschriebenen Zeilen ernüchterte ihn augenblicklich. Eine fremdartige Schrift.
»Nun«, verlangte Pömer zu wissen. »Was denkt Ihr?«
»Es ist Arabisch!«
»Natürlich ist es das!«, rief Pömer aus. »Ibn an-Nafis war Perser, und ich habe diese arabische Übersetzung seines Werkes von einem Kaufmann aus Portugal.«
Richard fuhr mit dem Zeigefinger eine der verschlungenen Schriftlinien ab. Er wusste, dass man das Arabische von rechts nach links lesen musste, aber mehr auch nicht. Der Sinn des schlangenartigen Gekritzels blieb ihm völlig schleierhaft, doch er spürte, dass in seiner Brust ein winziger Funken Hoffnung aufglomm. Wenn dies wirklich ein Buch von Ibn an-Nafis war, dem persischen Anatom aus dem 13. Jahrhundert, dann würde er vielleicht bald aufhören können, hier unten in der Düsternis heimlich Leichen zu zerstückeln.
»Wann wollt Ihr es übersetzen lassen?«, fragte er Pömer. Er heftete den Blick auf das weiße Laken und mühte sich, der Hoffnung nicht zu viel Raum zu geben.
»Oh, demnächst! Aber ich glaube, soeben kommt unser Herr Maler an. Wir sollten uns später weiter darüber unterhalten.«
Richards Fingerspitzen hatten angefangen zu kribbeln. Er hob die Hände und streckte sie aus. Sie zitterten.
Er holte tief Luft und machte sich bereit, endlich mit seiner Arbeit anzufangen.
Christian Marquard, der dritte Mann in ihrem Bunde, betrieb in einem der Viertel südlich der Pegnitz eine mäßig erfolgreiche Malerund Bildhauerwerkstatt. Er war ein Mann mittleren Alters, ein schmächtiger, unglaublich eitler Kerl von kränklicher Gestalt und mit einer gelblichen Gesichtsfarbe, die ihn weitaus betagter aussehen ließ, als er tatsächlich war. Wie immer kam er mit wehendem Mantel die Treppe heruntergerannt und warf seinen Hut einfach in eine Ecke. Obwohl er noch nie im Leben auf einem Pferd gesessen hatte, trug er hohe lederne Reitstiefel, deren Sohlen auf dem Steinfußboden laut klangen.
»Die Stadt ist ein einziges Irrenhaus«, stöhnte er, dann fiel sein Blick auf Richard. Er deutete eine Verbeugung an. »Ich hatte gehofft, dass Ihr mir heute den Anblick Eures ebenmäßigen Antlitzes erspart, mein Bester!« Doch das freudige Leuchten in seinen Augen strafte seine Worte Lügen.
Pömer lachte. »Wie gut für Euch! Weil Gott Richard diesen kräftigen, gesunden Körper geschenkt hat und nicht Euch, könnt IhrEuch an seinem Anblick ergötzen. Wie mühsam wäre es, wenn Ihr dafür ständig in einen Spiegel schauen müsstet!«
Marquard winkte ab.
Richard kreuzte den Blick Pömers. Er runzelte die Stirn und versuchte, so finster wie möglich dreinzublicken, um die unterschwellige Spannung, die plötzlich im Raum lag, zu durchbrechen.
Pömer lachte nur lauter, und Richard spürte, wie seine Ohren heiß wurden. »Ich würde es begrüßen, wenn wir endlich anfangen könnten«, sagte er betont kühl.
Marquards Blick hing an seinen Lippen. Der Maler hatte den Mund leicht geöffnet und schien in Gedanken weit entfernt zu sein. Dann jedoch gab er sich einen Ruck. »Habt Ihr etwas von diesem geheimnisvollen Mordfall in der Lochwasserleitung gehört, Pömer?«, fragte er. »Wisst Ihr, was der Stadtrat deswegen zu tun gedenkt? Und vor allem, war es wirklich der Leichnam eines Engels,
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