Seraphim
lasst uns endlich anfangen.«
Pömer legte den Kopf schief wie ein alter Hund, der den Befehl seines Herrn nicht mehr gut verstehen konnte. Dann hustete er und griff nach einem der Werkzeuge, die hinter ihm im Regal lagen. Es war ein schlankes, silbrig schimmerndes Skalpell. »Nur zu gerne! Haltet Euren Skizzenblock bereit, Marquard! Seid ihr soweit, Sterner? Ich vermute, Ihr wollt mit dem Brustkorb anfangen, nicht wahr?« Er reichte Richard das Skalpell.
Richard kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder und drängte die furchtbaren Erinnerungen, die an die Oberfläche seines Geistes steigen wollten, zurück in den hintersten Winkel. »Danke«, sagte er und nahm Pömer das Skalpell ab.
Einen Augenblick lang ließ er die Klinge über der weißen Brust des toten Jungen schweben und wartete auf die Erregung, die er sonst in solchen Momenten empfand. Die Erregung darüber, sein Wissen über den menschlichen Körper wieder ein Stückchen zu erweitern.
Doch zu seiner Überraschung blieb sie aus. Er presste die Lippen zusammen, dann senkte er das Skalpell in das weiße Fleisch des Jungen. Während er einen langen Schnitt von der Kehle bis zur Bauchdecke ausführte, leerte sich sein Geist. Jetzt waren da nur noch sein Werk, der tote Junge und er selbst. Die Suche nach Erkenntnis war kein Hexenwerk!
Für dich, Magdalena , dachte er im Stillen.
Pömer reichte ihm eine kleine Säge, mit der er eine nach der anderen die Rippen durchtrennte. Es dauerte nicht lange, und er begann von der schweren Arbeit zu keuchen. Schweiß brach ihm aus und rann in seine Augen. Mit dem Unterarm wischte er ihn fort.
Endlich hatte er die Lungenflügel freigelegt. Seine Hände klebten, doch er achtete nicht darauf.
Er starrte auf das vor ihm liegende Organ, das aufgebläht war wie eine volle Schweinsblase. Ungeduldig wartete er darauf, dass Marquard mit seiner Zeichnung fertig war und er weitermachen konnte.
Nur am Rande nahm er wahr, dass der Maler das Gespräch auf Jörg Zeuner gebracht hatte. Zeuner war Patrizier, Mitglied des Inneren Rates wie Pömer und zur Zeit mit dem Amt eines Lochschöffen beauftragt. Was bedeutete, dass er für die Untersuchung von Mordfällen auf dem Stadtgebiet zuständig war.
Als Marquard ihm einen Wink gab, durchtrennte Richard einige Gefäße, legte dann das Skalpell neben der Leiche ab und hob einen Teil der Lunge aus dem Brustkorb des toten Jungen. Prüfend drückte er ihn mit den Daumen ein. Er war weitaus weniger elastisch, als er das bei früheren Leichen festgestellt hatte. Seine Finger hinterließen deutlich sichtbare Dellen in dem dunkelroten Gewebe, die auch nicht wieder verschwanden. An einer Stelle gelang es ihm sogar, das Fleisch gänzlich zu durchstoßen. Eine weißliche, schaumige Flüssigkeit trat zutage.
Behutsam und mit einem Anflug von Ehrfurcht legte Richard das Organ zurück an seinen Platz. Dann griff er nach einem Tuch, um sich die blutigen Hände abzuwischen. Die Worte eines italienischen Anatomen kamen ihm in den Sinn.
Die Anatomie enthüllt, was die Natur sorgfältig verborgen hat, und ich glaube nicht, dass man die Zerfleischung des menschlichen Körpers ansehen kann, ohne Tränen zu vergießen.
Die Lunge dieses Jungen unterschied sich vehement von der jener Frau, die er damals seziert hatte. Damals war da kein Schaum gewesen, und auch keine Dellen.
Aber was nützte ihm diese Erkenntnis? Würde er jemals begreifen, was in einem menschlichen Körper geschah, wenn er ertrank?Würde er jemals in der Lage sein, ein Mittel zur Rettung Ertrunkener zu finden? Warum waren die Symptome an den Leichen so völlig verschieden?
Oh, Magdalena , dachte er resigniert. Ich werde es nie schaffen!
»Wahrscheinlich marschiert er zur Stunde mit hängendem Kopf durch die Lochwasserleitung und dreht dort jeden Stein um«, sagte Marquard gerade.
Pömer stieß einen kieksenden Laut aus. Richard warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu, und Marquard fragte: »Was habt Ihr? Ihr seid totenblass, mein Lieber!«
Richard bezog diese Frage auf sich. Weil ich in einer Sackgasse stecke, wie so oft zuvor , dachte er. Er sprach es jedoch nicht aus, stattdessen murmelte er: »Wenn es möglich wäre, an einem lebenden Organ ...«
»Das solltet Ihr niemals auch nur denken!«, fuhr Pömer ihm mitten ins Wort. Richard riss die Augen auf. Ein lebendes Organ zergliedern? Hatte er das wirklich gedacht?
»Schon gut«, wehrte er ab. »War nur so dahergesagt.« Aber er war sich nicht sicher, ob das stimmte. Wie
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