Seraphim
ab.
Johannes gehorchte. Seine Hände zitterten, doch er schaffte es, auch die restlichen Stricke durchzuschneiden, die dem Toten um Brust, Bauch und Oberschenkel lagen.
Aus der Umschnürung befreit, breiteten sich zwei große weiße Flügel aus, fielen über die Kante des Tisches, auf dem Johannes den Toten hatte aufbahren lassen. Ihre Spitzen berührten gerade eben die grauen Fliesen des Kapellenbodens.
»Jesus, Maria!«, keuchte Prior Claudius. »Was, bei allen Heiligen, ist das?«
Johannes war nicht in der Lage, es ihm zu sagen.
»Ein Engel?« Prior Claudius schlug ein Kreuz, dann noch eines. »Ein Engel«, wiederholte er fassungslos. »Ein toter Engel in meinem Kloster! Das ist Hexenwerk!«
Dies war der Moment, in dem Johannes die Regungen seines Leibes nicht mehr kontrollieren konnte. Ohne ein Wort der Entschuldigung stürzte er aus der Kapelle.
Er erreichte den Abtritt gerade noch rechtzeitig.
Keuchend und mit tränenden Augen übergab er sich.
Kurze Zeit später lag er in der Klosterkirche vor dem Dreikönigsaltar auf den Knien und versuchte, den Blick auf die Krippenszene in dessen Mitte gerichtet zu halten. Immer wieder jedoch schweifte er von dort zu der Darstellung der Verkündigung Marias ab. Der Engel auf diesem Bild hatte große Flügel, deren Decken in allen Farben des Regenbogens schillerten wie die eines Paradiesvogels. Johannes schluchzte auf und wollte die Augen niederschlagen. Dabei fiel sein Blick auf das untere Bild des linken Altarflügels. Weitere Engel. Weitere Flügel, weiß und buntschillernd. Er stieß einen gequälten Schrei aus.
Sein gesamter Körper bebte jetzt. »Warum hast du mich verlassen, Herr?«, stöhnte er.
Er schloss die Augen, doch das Bild der bunten Flügel auf dem Altar wurde ersetzt durch die weißen, die rechts und links von derTotenbahre herabgehangen und den Boden berührt hatten. Mit einem Schrei riss Johannes die Augen wieder auf.
Er hob die Hände zu dem Kreuz in die Höhe. »Warum, Herr?«, flüsterte er. »Warum lässt du zu, dass mich das wieder einholt?«
* * *
Jetzt, da das Tuch fort war, fiel Richard auf, dass von der Leiche kaum Geruch ausströmte. Das süßliche Aroma, das er zuvor wahrgenommen hatte, lag offenbar noch von ihren früheren Studien in der Luft. Der Tote schien bereits begraben gewesen zu sein, allerdings hatte jemand ihn kunstgerecht gewaschen. Nur in den feinen Rillen seiner Finger und am Ansatz seiner blonden Haare waren Reste von Lehm zu erkennen. An der Unterseite seiner Arme und Beine zeichnete sich die violette Verfärbung des Todes ab, aber von oben betrachtet, wirkte der Junge beinahe wie eine makellose Marmorstatue.
»Wie, um Himmels willen, seid Ihr an dieses Prachtexemplar gekommen?« Marquards Stimme klang beinahe so heiser wie die von Pömer, voller Anspannung und Unbehagen. Richard stellte fest, dass auch er selbst eine enge Kehle hatte.
Pömer schaute ihm lächelnd ins Gesicht. Er sah äußerst zufrieden aus. »Das hier ist der junge Gehilfe vom St. Sebald-Türmer. Der, den sie beim Stehlen in den Gärten auf der Schüdt erwischt haben.«
Richard zuckte zusammen. Ein Summen entstand in seinen Ohren, ein großer Druck, als befinde er sich unter Wasser. Wieder unter Wasser ... Er schüttelte den Kopf, seine Kehle verkrampfte sich. »Sie haben ihn getaucht, nicht wahr?« Kurz vermeinte er, feine Wassertropfen in den Haaren des Jungen glitzern zu sehen, aber es war eine Täuschung seiner plötzlich aufs Äußerste angespannten Sinne. Sein Mund war trocken, und er leckte sich über die Zähne.
»Wie es sich für einen Gemüsedieb gehört, ja.« Pömers Stirn krauste sich, und Richard wusste, dass der Getreidehändler sich über seine Reaktion wunderte.
Er zwang sich zu einem anerkennenden Lächeln. »Tod durch Ertrinken. Ihr hattet recht, ich bin wirklich zufrieden.« Sein Magen wollte sich umdrehen.
»Jetzt hat das lange Warten ein Ende«, sagte Pömer. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte er Richard schon einmal einen ertrunkenen Menschen gebracht, eine Frau, die beim Baden ausgerutscht, mit dem Kopf gegen einen Stein geprallt und dann unter Wasser geraten war.
Auch Marquard schien Richard aufmerksam zu beobachten. »Habt Ihr irgendein Problem mit dem Jungen?«, fragte er ihn ins Gesicht.
Richard schüttelte rasch den Kopf. Von den Männern hier wusste niemand, warum er so sehr darauf brannte, einen Ertrunkenen zu zergliedern. Zu seiner Erleichterung wandte der Maler sich an Pömer.
»Warum ist er tot? Ich
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