Seraphim
Verhalten zu ertragen, denn es zeigte ihm allzu deutlich, wie er selbst sich gab. Da half esnur, sich zu beschäftigen, um nicht zu viel zu grübeln. Seit jener furchtbaren Nacht hatte Johannes kaum geschlafen und so viel gearbeitet, dass Sterne hinter seinen Lidern tanzten, wenn er blinzelte.
Direkt vor seinen Füßen hielt der Fuhrknecht an, ein krummer, sonnenverbrannter Mann mit schütterem Haar.
»Es hat niemand angeordnet, dass die Leich... hier ist niemand gestorben.« Guillelmus’ erschrockener Blick brannte auf Johannes’ Gesicht. Gerade noch rechtzeitig hatte er sich besonnen, dass niemand von den Leichen der Inquisitoren erfahren sollte. »Ihr müsst Euch in der Adresse geirrt haben«, schob er nach.
Der Mann hob den Kopf und starrte Johannes aus tränenden Augen an. »Hat niemand gesagt, dass ich gekommen bin, um Tote zu holen.« Er schaute über seine Schulter nach hinten, zog die Schultern hoch und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
Johannes besann sich des Brauers. »Es ist alles gut. Ihr könnt jetzt gehen, ich sorge dafür, dass Ihr Eure Bezahlung erhaltet.« Er wartete, bis der Mann verschwunden war, schickte auch Guillelmus fort und schaute dann den Fuhrknecht genauer an.
»Warum seid Ihr dann hier?«
Im Gesicht des Mannes arbeitete es. »Ich soll Euch den da bringen.« Mit dem Daumen wies der Fuhrknecht über seine Schulter. Seine Hand zitterte.
Johannes warf einen Blick auf die Leiche. Das Tuch, mit dem sie eingeschlagen war, wurde durch ein dünnes Hanfseil gehalten, so dass die menschliche Gestalt unter dem Leinen sich deutlich abzeichnete. Etwas jedoch war seltsam: Der Leichnam wirkte auf eine gewisse Weise verunstaltet, die Johannes sich nicht erklären konnte. Er trat an die Seite des Karrens und schaute genauer hin.
Ein unförmiger Gegenstand schien unter der Leiche zu liegen und mitsamt ihr in das Tuch eingeschlagen worden zu sein.
»Was ist mit ihr?«, fragte er den Fuhrknecht.
Der Mann hatte sich zu ihm umgewendet und schaute ihn nur an.
Johannes wurde kalt.
Er fühlte, wie sich in seinem Unterleib etwas verkrampfte. Plötzlich musste er dringend auf den Abtritt. Er hielt dem Blick des Fuhrknechts einen Augenblick lang stand, dann nahm er ein Messer ausder Tasche, die er am Gürtel trug, und zerschnitt die beiden oberen Schlingen des Stricks. Behutsam schlug er das Tuch zur Seite.
Und prallte zurück.
Der Fuhrknecht bekreuzigte sich.
Auf dem Wagen lag nicht die Leiche eines Mannes, sondern die eines Engels.
»Woher habt Ihr den?«, krächzte Johannes. Er musste die Frage noch zweimal wiederholen, bis der Fuhrknecht ihm eine Antwort gab.
»Haben sie in der Lochwasserleitung gefunden. Mehr weiß ich nicht. Soll ihn hierherbringen, wohl weil Ihr Kirchenleute seid, schätze ich mal.« Noch einmal bekreuzigte er sich.
Johannes wurde bewusst, dass er sich mit beiden Händen an den Karrenstreben festgeklammert hatte. Langsam löste er seinen Griff und deckte Kopf und Schultern des Toten wieder zu. Dann suchte er die Fenster des Refektoriums ab, die auf den Nordhof hinausgingen, aber zu seiner Erleichterung befand sich dort niemand. »Was sollen wir damit machen?«, murmelte er.
»Aufbewahren. In Eurer Kapelle. Unter dem Kreuz. Das ist der Befehl von Bürgermeister Zeuner. Wahrscheinlich hat er Angst, dass der Gute sich plötzlich erhebt und in den Himmel davonschwebt!« Der Fuhrknecht sprang ab, um mit dem Abladen zu beginnen. Ebenso wie Guillelmus hatte er es jetzt sehr eilig.
Johannes funkelte ihn an. »Ihr vergesst Euch!«, zischte er. Fieberhaft überlegte er, was er jetzt tun sollte. Es kam ab und an einmal vor, dass der Stadtrat ein Mordopfer im Kloster aufbahren ließ. Meistens hatte dies einen einfachen Grund: Der Tote war ein wichtiger oder berühmter Mann, den man bis zu seiner Beerdigung nicht einfach in einem der Löcher unter dem Rathaus lassen wollte. Denn das war der übliche Aufbewahrungsort für ein Mordopfer, und dort blieb es so lange, bis der mit der Untersuchung betraute Schöffe erlaubte, es zu beerdigen.
Dieser hier jedoch ... ein Engel ... bei allen Heiligen! Ein Engel!
Johannes presste die Knie aneinander. »Ich werde den Prior fragen gehen«, hauchte er. »Wartet so lange hier!«Eine halbe Stunde später stand er neben Prior Claudius in der Klosterkapelle und starrte auf den eingewickelten Toten nieder.
»Entfernt das Tuch!«, befahl der Prior. Sein Kehlkopf ruckte, und dann zeichneten sich die Kaumuskeln sichtbar an seinem Kiefer
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