Seraphim
den Bogen in seiner Hand, dann auf das dicke rote Siegel, das Pömer als Ratsmitglied auswies, schließlich auf die unselige Leiche des Jungen. Er wollte sich schon zum Gehen wenden, als Pömers Stimme ihn zurückhielt.
»Sterner?«
Er blieb stehen.
»Seid vorsichtig! Zeuner weiß nichts von dem Gang – und es sollte auf jeden Fall so bleiben. Versteht Ihr, was ich meine?«
* * *
»Bruder?«
Eine Hand legte sich auf Johannes’ Schulter, leicht wie eine Feder. Trotzdem zuckte er zusammen.
»Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken. Es tut mir leid, dass ich Eure innere Einkehr unterbrechen muss, aber der Prior verlangt,Euch zu sehen. Er wartet in seinem Studierzimmer auf Euch.« Es war einer seiner Mitbrüder, der mit mitleidvoller Miene hinter ihm stand und auf ihn herabsah. Johannes musste blinzeln, um durch den Tränenschleier hindurch sein Gesicht erkennen zu können.
»Schon wieder?« Er umfasste die Lehne der vorderen Kirchenbank und stemmte sich in die Höhe. Er seufzte, dann schlug er ein Kreuz über sich. »Ich komme.«
Der Mönch nickte, schob seine Hände in die Ärmel seiner Kutte und ging davon.
Johannes blieb noch einen Augenblick in der Bank stehen. Diesmal schaffte er es, den Blick von den Engeln auf den Altarflügeln abgewendet zu lassen und sich stattdessen auf die Darstellung der Flucht nach Ägypten zu konzentrieren. Der heilige Josef sah besorgt aus auf diesem Bild. Steile Falten standen über seiner Nasenwurzel, und es kam Johannes so vor, als schaue er nicht auf ein Gemälde, sondern in sein eigenes Spiegelbild. Wenn er doch nur auch davonlaufen könnte ...
Er wischte sich die letzten Spuren der Tränen vom Gesicht und verließ die Kirche. Auf dem Weg zu Prior Claudius’ Studierzimmer kam er am Eingang zur Kapelle vorbei, in der die Toten aufgebahrt waren. Er beeilte sich, das Gangstück hinter sich zu lassen, ohne ihm einen einzigen Blick zu widmen.
Prior Claudius war nicht allein. In einem der Lehnstühle, die er für Besucher bereithielt, saß ein hagerer, hochgewachsener Mann, an dessen Händen die Sehnen und Adern wie Seile hervortraten. Seine braunen Augen waren in ihren Höhlen beständig in Bewegung, die Blicke huschten über Wände und Möbel und fixierten Johannes schließlich. Sofort fühlte der Infirmarius sich unbehaglich. Zögernd blieb er in der Tür stehen.
Prior Claudius erhob sich und winkte Johannes heran. »Kommt nur«, bat er. »Darf ich Euch bekannt machen? Das ist Bürgermeister Zeuner. Herr Bürgermeister, der Bruder Infirmarius, Johannes Schedel.«
Zeuner neigte den Kopf zu einer formlosen Begrüßung und wartete, bis der Prior sich wieder gesetzt hatte. Unschlüssig, was nun von ihm erwartet wurde, blieb Johannes mitten im Raum stehen.
»Setzt Euch doch«, forderte der Bürgermeister ihn auf. Mit einer Geste, die so selbstverständlich war, als gehöre das Studierzimmer ihm, wies er auf den Sessel an seiner Seite.
Johannes sah, wie sich Claudius’ Miene verfinsterte. Der Prior nickte jedoch, und so ließ sich Johannes vorsichtig auf dem Rand des Möbels nieder. Er sank tief in das weiche Polster ein, und das gab ihm ein Gefühl von Haltlosigkeit. Krampfhaft schloss er seine Hände um die geschnitzten Armlehnen und versuchte, Ruhe zu bewahren. Er hatte keine Ahnung, warum er hergerufen worden war, und noch weniger wusste er, was Bürgermeister Zeuner von ihm wollte. Alles, was er zu denken vermochte, war: Jetzt haben sie mich! Nach all den Jahren ...
»Der Herr Bürgermeister ist bei uns, Bruder Johannes, weil er unseren geistlichen Rat braucht.« Ein schwaches Lächeln auf Claudius’ Gesicht zeigte an, dass er mit dieser Situation überaus einverstanden war. »Da Ihr der medizinisch Gebildete in unserem Kloster seid, habe ich Euch zu diesem Gespräch hinzugebeten, in der Hoffnung, dass Euer Wissen uns weiterhelfen kann.«
Johannes fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. »Ich verstehe nicht«, murmelte er. Klang seine Stimme wirklich so krächzend, wie es ihm seine Ohren weismachen wollten?
Bürgermeister Zeuner beugte sich ein wenig vor. Sein Blick ruhte auf Johannes’ Gesicht, und der hatte das Gefühl, bis auf den Grund seiner Seele durchschaut zu werden. Es hätte ihn nicht im Mindesten gewundert, wenn der Mann plötzlich aufgestanden wäre, ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn abgeführt hätte. »In der Tat«, begann Zeuner zu sprechen, »benötige ich Euren Rat – als Medicus, aber auch als
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