Seraphim
Handballen auf die Augen, bis ein dunkelroter Funkenregen das Bild der Flügel überlagerte.
Ihr wurde schlecht. Matthias! Warum er?
Ihr Herz schlug ihr weit oben im Hals, und dann – sie konnte es fühlen – verlangsamte es sich so sehr, dass sie meinte, es müsse stehenbleiben. Sie wollte sich wieder hinlegen, wollte die Decke über ihren Kopf ziehen und niemals wieder aufstehen, aber stattdessen stellte sie die Füße auf den Boden und befahl sich selbst, darauf zu achten, was die Sohlen ihr für ein Gefühl vermittelten.
Sie war barfuß.
Hatte sie sich vor dem Hinlegen die Schuhe ausgezogen? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Der Boden bestand aus Holzdielen. Feine Späne bohrten sich in ihre Haut, aber es war keine schmerzhafte Wahrnehmung. Es kitzelte ein wenig. Katharina krümmte die Zehen, was die Muskeln bis hinauf zu ihren Waden schmerzen ließ.
Dann stand sie auf.
Ein leichtes Schwindelgefühl überkam sie, aber es verging sogleich wieder. Ihre Schuhe standen nebeneinander ausgerichtet vor dem Bett. Auch ihr Obergewand und die pelzbesetzte Schaube lagen ordentlich gefaltet über dem Truhendeckel.
Konnte es sein, dass sie sich nicht selbst entkleidet hatte? Aber wenn ja, wer hatte es dann getan? Noch immer hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand.
Sie trat an das Fenster, öffnete die Läden und stieß sie nach außen, aber zu ihrem Bedauern konnte sie nicht allzu viel erkennen. Unter ihr floss das Wasser der Pegnitz, soviel sah sie, aber der Rest der Aussicht wurde von einer Reihe Birken versperrt. Alles, was die Zweige ihrem Blick sonst noch enthüllten, war eine Reihe gemauerter Giebelreiter. Die Sonne stand niedrig am Himmel, aber da Katharina nicht wusste, ob das Fenster nach Osten oder nach Westen wies, vermochte sie auch nicht zu sagen, ob es Morgen oder Abend war.
Sie wusch sich in der Schüssel Gesicht und Hände, dann zog sie sich an, setzte ihren Witwenschleier auf, schlüpfte in ihre Schuhe und verließ die kleine Kammer.
Der Raum, den sie nun betrat, war nur unwesentlich größer als der erste. In einem Lehnstuhl, eine Decke über die Beine gebreitet, saß eine schmale, grauhaarige Frau.
»Du bist erwacht. Das ist gut«, sagte sie.
Und auf einmal wusste Katharina, wo sie war. Es gefiel ihr nicht.
Sie neigte den Kopf. »Mutter«, murmelte sie.
Der kleine Raum wirkte durch die zwei Lehnsessel, den Tisch mit den vier Stühlen und einen großen Schrank überaus vollgestellt. Im Ausschnitt des Fensters, durch das Katharina nun schauen konnte, war das Ufer der Pegnitz zu erkennen und ein Teil des Fleischhauses, in dem die auswärtigen Metzger ihre Geschäfte hatten.
»Mutter«, wiederholte sie. Sie hatte sich seit Betreten des Raumes noch keinen Fingerbreit gerührt.
»Ja.« Mechthild Augspurger hatte ihre Hände im Schoß verschränkt. Sie saß sehr aufrecht, ihre Beine, um die eine graue Decke geschlungen war, wirkten unendlich dünn und zerbrechlich. Ihre Füße standen auf einem kleinen Holzschemel. »Es ist lange her, Katharina.«
Endlich machte Katharina einen Schritt auf ihre Mutter zu.
Deren Gesicht wirkte blass und hager und die Schatten unter ihren Augen dunkelblau. Spitz und knochig zeichneten sich ihre Knie durch das Gewebe der Decke ab. Zu sehen, dass Mechthild Augspurger in den vergangenen Jahren vollständig ergraut war, versetzte Katharina einen Hieb in die Magengrube.
»Was ist mit deinen Beinen?«, fragte sie.
Mechthild legte beide Hände auf ihre Knie. Ihre Fingerknöchel wurden weiß. »Ich war sehr krank.«
»Du bist gelähmt?« Katharina schluckte. Im Blick ihrer Mutter suchte sie nach einem Vorwurf, doch sie fand keinen. Dennoch musste sie sich gegen ein immenses Schuldgefühl wehren, das jetzt in ihr aufstieg. Sie war es gewesen, die den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen hatte. Jahrelang hatte sie sich geweigert, auch nur in Mechthilds Nähe zu kommen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass ihre Mutter inzwischen vollständig gelähmt war!
Mechthild schlug als erste die Augen nieder. Ihre Unterlippe begann zu zittern, und ein einziges Wort brachte sie über die Lippen. »Matthias ...«
Es reichte, um etwas in Katharina zerbersten zu lassen. Vergessen war für den Moment jedes Gefühl von Verachtung und Zorn, das sie ihrer Mutter gegenüber empfunden hatte. Ohne darüber nachzudenken, überwand Katharina auch noch das letzte Stück Raum, das sie von Mechthild trennte. Vor ihr ließ sie sich auf die Knie fallen. Sie schlang ihre
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